Weshalb die EU und die Türkei vom Deal profitieren

Im Juli 2020 hat die EU der Türkei weitere knapp 500 Millionen Euro im Rahmen des sogenannten „EU-Türkei-Deals“ bewilligt.1 Im Rahmen des 2016 geschlossenen Abkommen, sind von der EU an die Türkei bisher über 6 Milliarden unter Auflagen überwiesen worden.2 Die Europäische Union hat die türkische Regierung eingespannt, um den weiteren Zuzug von Geflüchteten gewaltsam zu unterbinden. Die Aussengrenzen werden aufgerüstet, damit Menschen aus dem globalen Süden Westeuropa nicht erreichen. Die EU bezahlt daher seit Jahren Millionen an Regierungen von Drittstaaten an den Grenzen Europas (Libyen, Türkei, Jordanien, Libanon, Marokko etc.) zur Errichtung von Internierungslager für Geflüchtete in teilweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen und zum Ausbau der Repressionsorgane wie den Küsten- und Grenzwachen.

Die nun im Juli bewilligte Zahlung folgt einigen Provokationen der Türkei gegenüber der EU und Griechenland: So hat die Türkei Ende Februar offiziell die „Tore geöffnet“ und versucht, möglichst viele Geflüchtete an die Landesgrenze zu Griechenland zu transportieren, um eine Art „Flüchtlingssturm“ zu provozieren. Die unmittelbare Antwort Griechenlands, unterstützt durch die EU, war eine erhöhte Militarisierung der Grenze. Dabei wurde scharf auf Menschen geschossen, es gab Schwerverletzte und Tote.3 

„Versorgung der Flüchtlinge“

Offiziell sind die EU-Gelder an die Türkei für die „Versorgung der Flüchtlinge“ und die Kontrolle der Grenzen vorgesehen.4 Das bedeutet, dass damit in der Türkei „Flüchtlingslager“ errichtet und die Grenzen Richtung Europa militärisch abgesichert werden sollen. Die Bilder, welche vom Meer, aber auch aus den Lagern wie Moria die westeuropäischen Wohnzimmer erreichen, bringen die Türkei in eine mächtige Position.5 Ankara kann Forderungen, auch finanzielle, stellen und im Gegenzug Anstrengungen im eigenen Land unternehmen, Menschen davon abzuhalten, nach Griechenland oder Bulgarien überzusetzen.

Ein offizieller Teil des Deals beinhaltet die Rückführung und Rückaufnahme von „illegalen Migrant*innen“. Die Türkei ist verpflichtet, Geflüchtete, welche von der EU als „irreguläre Migrant*innen“ deklariert werden, wieder aufzunehmen. Mit dem Geld werden – entgegen der Aussagen des EU-Kommissars Janez Lenarcic – längst nicht nur humanitäre Projekte unterstützt.6 So werden auch repressive Organe wie die türkische Küsten- und Grenzwache ausgebaut und aufgerüstet. Von der Türkei wird erwartet, aktiv Menschen auf See aufzugreifen, wieder zurück an Land zu bringen und – wie in den letzten Monaten vermehrt geschehen – bei sogenannten „Push-Backs“ zu assistieren bzw. dann die Rettung der von der griechischen Küstenwache in Seenot gebrachten Menschen auszuführen.

Abschottungspolitik der EU

Zudem sollen Menschen von einer Weiterreise in die EU abgehalten werden. Insofern befindet sich dieser Vertrag in einer langen Tradition im Umgang mit Geflüchteten: Die Errichtung von Lagern in Staaten, welche sich nah an den Herkunftsländern befinden, und vom „reichen“ Westen finanziert werden.7 Denn auch wenn es in westlichen Medien oftmals anders dargestellt wird, befindet sich die Mehrheit der Geflüchtetenlager nicht innerhalb der EU. Einerseits dienen die Lager dazu, Menschen davon abzuhalten, in den Westen zu kommen. Andererseits werden diese Lager auch zu einer lukrativen Einnahmequelle für die Länder, welche sie beherbergen. Unter dem Deckmantel der „Fürsorge von Geflüchteten“ pumpt die EU Millionen in diktatorische und korrupte Regierungen.

Die Realität, dass sich in der Türkei mehrere Millionen Geflüchtete in z.T. prekären Bedingungen wiederfinden und eine Weiterreise in die EU häufig eine der einzigen würdevollen Optionen ist, bringt die Türkei in eine mächtige Position.

In den Ländern der EU gibt es den Konsens, Migration «unter Kontrolle» zu halten und die Bewegungsfreiheit und die Zuwanderung zu beschränken. Von links bis rechts sind Politiker*innen der Auffassung, dass Migration auf jeden Fall gesteuert werden muss.8 Abkommen wie der EU-Türkei Deal sind ein Resultat dieser Politik.

Gemäss der Dublin-Verordnung, sind die „Erststaaten“, in diesem Fall hauptsächlich Griechenland, für die ankommenden Menschen zuständig.9 Aufgrund der Überforderung und dem Unwillen der griechischen Regierung, die grosse Anzahl ankommender Menschen zu versorgen, entstehen an den europäischen Aussengrenzen Situationen wie dasjenige des Lagers Moria auf Lesbos. Dort leben Menschen teilweise jahrelang unter prekären Bedingungen, während sie auf der Insel festsitzen und auf eine Weiterfahrt aufs Festland warten. Dort geht der Alltag der Verfahren und Lagerstrukturen weiter. In diesem globalen Migrationssystem bleibt bewusst kein Raum für die Autonomie von Geflüchteten.

Spielball Migrant*in

Die Türkei entwickelt sich zunehmend zu einem autoritären Regime. Abbau demokratischer Errungenschaften, jahrzehntelange Verfolgung und Unterdrückung von Minderheiten und seine aktive Rolle im Krieg in Syrien prägen die Politik.10 Die Türkei hat seit 2016 zweimal eine Invasion in Nordsyrien gestartet, wobei Tausende Menschen vertrieben und ein revolutionäres Projekt angegriffen wurde. Das Land, welches Millionen von der EU für die „Unterbringung von Flüchtlingen“ erhält, verursacht gleichzeitig selber Tausende.11

Ein Grossteil des ausbezahlten Geldes bleibt im Land, ein wesentlicher Teil innerhalb der Regierung. Auch hilft ein solcher Deals Erdoğan insofern, als dass er an Legitimation gewinnt, sowohl innenpolitisch als auch gegenüber internationalen Akteur*innen.12 Dass europäische Länder mit der Türkei eine enge Zusammenarbeit anstreben, resultiert aus einem starken Eigeninteresse der EU. Denn auch wenn offiziell anders behauptet, ging es bei dem Abschluss des Deals nie um die Unterstützung Geflüchteter, sondern um die Kontrolle von Migration und Migrant*innen und den Schutz der eigenen Privilegien. 

Geflüchtete, welche bereits aus Kriegsgebieten geflohen oder wegen nicht vorhandener Perspektive weiterreisten und unglaublich beschwerliche und gefährliche Routen auf sich genommen haben, werden zu einem Spielball der Interessen verschiedener Grossmächte. Dieses „Spiel“ wird auf dem Rücken von ebendiesen Menschen ausgetragen. Wenn Menschen nicht im Mittelmeer oder den Lagern sterben, leben sie in prekären Bedingungen, haben sklavenähnliche Jobs oder werden ohne Perspektive in Gefängnisse gesperrt.

Perspektive erkämpfen

Solidarität bedeutet zum einen, Geflüchteten praktische zu helfen und zum anderen, die Fluchtursachen zu benennen sowie deutlich zu machen, wer von einer Militarisierung der Grenzen profitiert. Im Kapitalismus bzw. im herrschenden System werden unweigerlich immer wieder Menschen zur Flucht gezwungen, ob durch Kriege oder die ungerechte Verteilung des Reichtums auf der Welt. Solidarisch Handeln heißt für uns, sich beim Aufbau von Gegenmacht gegen die herrschenden schlechten Zustände zu beteiligen. Für solch eine Perspektive müssen wir kämpfen und ein EU-Türkei Deal oder Nationalstaaten sind uns dabei sicherlich keine Hilfe. Denn das Fundament von Nationalstaaten oder Konstrukten wie der EU basieren auf Rassismus, Kolonialismus und der jahrhundertelangen Ausbeutung des globalen Südens. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Wir müssen uns gemeinsam, basisdemokratisch organisieren. Angefangen an den Orten an denen wir wohnen und wo wir soziale Beziehungen haben. Wir müssen unabhängig von staatlichen Institutionen, eigene Gegenstrukturen aufbauen und uns Stück für Stück die Perspektive einer solidarischen Welt erkämpfen.

© Beitragsbild: Toni Petraschk / Mare Liberum

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