Dass es an der griechisch-türkischen Seegrenze täglich und systematisch zu Grenzgewalt und Menschenrechtsverletzungen kommt, ist schon seit Monaten keine Neuigkeit mehr. Vor über einem Jahr beobachteten wir, wie die griechische Küstenwache anfing Rettungsinseln für ihre Pushbacks zu benutzen. Seitdem werden regelmäßig Menschen, die zum Teil bereits zuvor griechischen Boden erreicht haben, in Rettungsinseln auf dem offenem Meer ausgesetzt. Diese Praxis gehört mittlerweile zum „Standardvorgehen“ der Behörden. Im Schnitt werden seit März 2020 zweimal pro Woche Menschen in Rettungsinseln auf dem Ägäischen Meer ausgesetzt, über 4.700 Menschen sind seit dem betroffen. Die Routinemäßigkeit, mit der die Behörden diese Praxis durchführen, macht den Einsatz von Rettungsinseln keineswegs weniger schockierend. Die nicht steuerbaren und häufig überfüllten Gummifloße sind für die betroffenen Personen lebensgefährlich.

In den letzten Monaten gab es zudem immer wieder Fälle, bei denen Menschen auf der Flucht ohne Rettungsinseln oder Schlauchboote auf dem Meer ausgesetzt wurden. Während die meisten der Betroffenen schwimmen und sich selbst retten konnten, sind mindestens drei Personen in diesem Jahr bei einem solchen Pushback gestorben. Menschen ins Wasser zu werfen, egal ob sie Rettungswesten tragen oder schwimmen können, ist versuchter Mord und zeigt auf brutalste Art wie weit die griechischen Grenzbehörden zu gehen bereit sind.

Am 31. Januar wurden vier Personen aus Palästina und Somalia von der griechischen Küstenwache ins Meer geworfen, nachdem sie sich zuvor auf Chios befanden. Sie konnten aus eigener Kraft die Insel Fener Adası erreichen, auf der sie drei Tage ausharrten, bis die türkische Küstenwache drei von ihnen rettete. Die vierte Person hat es nach unbestätigten Angaben vorerst allein zurück nach Chios geschafft [1].

Am 19. März hat die türkische Küstenwache sieben Menschen gefunden, die, nachdem sie Chios bereits erreicht hatten, von griechischen Behörden ins Meer geworfen wurden. Während es zwei Personen schwimmend zur Insel Boğaz Adası schafften und zwei weitere aus dem Wasser gerettet werden konnten, kam für zwei Personen jede Hilfe zu spät. Wenig später starb eine der geretteten Personen im Krankenhaus. Die siebente Person konnte Tage später lebend gefunden werden [2].

Am 23. Mai fand die türkische Küstenwache zwei Personen auf der Insel Başak Adası. Sie wurden nach eigenen Angaben zuvor von der griechischen Küstenwache ins Meer geworfen und schafften es schwimmend an Land [4].

Am 3. Juli fand die türkische Küstenwache drei Personen bei Söke in der Region Aydın, die die Küste schwimmend erreichten, nachdem sie von der griechischen Küstenwache im Meer ausgesetzt wurden [5].

Am 17. Juli fand die türkische Küstenwache eine Person auf der Insel Bayrak Adası, die ebenfalls zuvor von der griechischen Küstenwache ins Meer geworfen wurde und zu der türkischen Insel schwimmen konnte [6].

Die meisten dieser Informationen stammen von der türkischen Küstenwache und sind demnach mit Vorsicht zu behandeln. Da sich die dokumentierten Vorfälle jedoch stark ähneln und sich zum Teil mit Berichten von Betroffenen sowie dem Border Violence Monitoring Networks decken, ist von der Echtheit der Informationen auszugehen.

An der griechisch-türkischen Grenze, wie auch an vielen anderen europäischen Außengrenzen geht der „Grenzschutz“ aktuell so weit, dass Menschen getötet oder in akute Lebensgefahr gebracht werden. Dass es sich dabei um ein gesamteuropäisches Projekt handelt, steht außer Frage. So sind auch Frontex- und NATO-Einheiten in der Ägäis präsent, in der es beinahe täglich zu Pushbacks und Gewalt gegen Fliehende kommt. Die massiven Menschenrechtsverletzungen müssen aufgeklärt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Wer nicht aktiv zur Aufklärung der Verbrechen beiträgt, ist Mittäter*in.

Mare Liberum i. A.

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