Heute sind wir hier, um der Menschen zu gedenken, die durch das europäische Grenzregime ihr Leben auf See verloren haben. 

Am vergangenen Dienstag sank ein Boot mit 27 Menschen an Bord in der Nähe der griechischen Insel Chios. Die Küstenwache, ein NATO-Schiff, Schiffe aus der Umgebung und ein Hubschrauber führten die Suche bei rauem Wetter durch, doch fünf Menschen – darunter vier Kinder – konnten nur noch tot geborgen werden. Die Suche nach den beiden vermissten Personen wurde nach wenigen Tagen abgebrochen. Wir trauern um sieben weitere Opfer der Festung Europa.

Wir wollen den Toten, Vermissten und gewaltsam Verschwundenen in der Ägäis gedenken.

Dieses Schiffsunglück ist eine schmerzliche Erinnerung daran, dass die Ägäis nach wie vor eine der vielen tödlichen Routen nach Europa ist. Offiziellen Zahlen zufolge sind seit 2014 1.773 Menschen bei dem Versuch, die Ägäis zu überqueren, ums Leben gekommen [1]. Dies sind jedoch nur die offiziellen Zahlen, die tatsächliche Zahl muss viel höher sein. Viele der Ertrunkenen werden nie gefunden und ihre Namen bleiben unbekannt. Das macht es für ihre Familien und Freunde nahezu unmöglich, etwas über den Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. Sie sind gezwungen, mit der unerträglichen Ungewissheit zu leben.

Manchmal hoffen und suchen die Menschen jahrelang, um etwas von ihren Angehörigen zu erfahren. Eine Frau im alten Lager Moria erzählte uns von einer Mutter in Afghanistan, die sich weigerte, ihr Dorf zu verlassen, obwohl die Taliban auf dem Vormarsch waren. Sie sagte, sie könne sich nicht wegbewegen, weil ihr Sohn, der auf seiner Reise nach Europa verschollen war, sie sonst nicht finden könnte, wenn er zurückkäme.

Die Ägäis bleibt eine gefährliche und viel zu oft tödliche Route. Als der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am 30. September 2021 sagte: “In diesem Jahr ist niemand in der Ägäis ertrunken”, war dies nicht nur eine Lüge, sondern auch eine absolute Respektlosigkeit gegenüber denjenigen, die ihr Leben verloren haben, sowie deren Familienangehörigen [2]. Im Jahr 2021 sind nach offiziellen Angaben 24 Menschen auf der Flucht in der Ägäis ertrunken, als sie versuchten, Europa zu erreichen. Heute wollen wir all derer gedenken, die ihr Leben auf dem Meer verloren haben. Wir vergessen sie nicht.

Vor drei Monaten, am 30. Juli 2021, kenterte am Lamna-Riff ein Boot auf dem Weg von der Türkei nach Lesbos. Es wurde eine Rettungsaktion durchgeführt, aber zwei Frauen und ein Kind wurden nie gefunden. Die griechische Küstenwache, die die Suche nach Überlebenden leitete, forderte Unterstützung an. Als die Nomad, ein voll ausgestattetes ziviles Rettungsboot, schnell reagierte, war sie gezwungen, in den Hafen zurückzukehren. Der Kapitän, ein ortsansässiger Fischer, wurde daraufhin gebeten, sich stattdessen mit seinem hölzernen Fischerboot an der Suche zu beteiligen. Eine in Anbetracht der Situation völlig unverständliche Anordnung. Es scheint, dass der Widerwille der Behörden, mit den NGOs zusammenzuarbeiten, größer war als die Notwendigkeit, Überlebende zu finden [3].

In demselben Gebiet im Norden von Lesbos ereignete sich am 28. Oktober 2015 einer der größten Schiffsbrüche der jüngsten Geschichte, die 43 Menschen das Leben kostete. Unabhängige Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass die Tragödie eine Folge der Politik der Regierung war, die darauf abzielte, Migrant*innen zu kontrollieren und abzuschrecken, anstatt für ihre Sicherheit zu sorgen [4].

Wir wollen all der Menschen gedenken, die bei dem Versuch, die Festung Europa zu erreichen, ihr Leben verloren haben. Ihr Tod ist die Folge eines Grenzregimes, das auf Ausgrenzung beruht. Jeder einzelne dieser Todesfälle ist eine Tragödie. Wir stehen in Solidarität mit ihren Angehörigen in ihrer Trauer und Wut.  Ihr seid nicht vergessen. Ruht in Frieden und Kraft! 

Grenzen töten! Für Bewegungsfreiheit!

Todesopfer in der Ägäis 2021

– 19. Januar 2021: Ein Mann ertrinkt in der Nähe von Lesbos, Herkunft unbekannt

– 24. Januar 2021: Zwei Menschen werden tot in türkischen Gewässern gefunden

– 19. März 2021: Drei Menschen ertrinken, die von der griechischen Küstenwache im Rahmen eines brutalen Pushbacks ins Wasser geworfen wurden; Herkunft: vermutlich Sierra Leone

– 22. Juli 2021: Acht Menschen werden nach einem Schiffsunglück südöstlich von Kreta vermisst; Herkunft: Syrien und Irak

– 30. Juli 2021: Zwei Frauen und ein Kind werden nach einem Schiffsunglück in der Nähe von Lesbos vermisst, Herkunft: Syrien und Irak: DCR

– 14. September 2021: Mindestens zwei Vermisste nach einem Pushback von Samos

– 26. Oktober 2021: Fünf Tote und zwei Vermisste nach Schiffbruch in der Nähe von Chios, Herkunft: Somalia

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