Der tägliche Pushback Horror

9798. Dies ist die Anzahl der Geflüchteten, die seit März 2020 illegal zurück gedrängt wurden, als sie versuchten die Ägäis zu überqueren.

Vor Kurzem wurde wieder ein Dinghy, ein Schlauchboot, mit dem Menschen oft über das ägäische Meer flüchten, an der Südküste von Lesbos angespült. Der dünne Gummischlauch war an mehreren Stellen aufgeschnitten – eine gängige Praxis um diese Boote zu versenken. Im Boot: 5 Gummiringe, die anstatt Rettungswesten genutzt wurden und einige persönliche Besitztümer, wie durchnässte Papiere und ein pinker Babyschuh – für ein weniger als 12 Monate altes Kind. Manchmal ist es möglich, diese zerstörten Boote mit Pushbacks in die Türkei zu verknüpfen, aber meistens ist es das nicht und man kann nur hoffen, dass die Menschen nicht ertrunken sind. Wir haben mit Familien gesprochen, die für Wochen und Monate nach ihren vermissten Angehörigen Ausschau gehalten haben, welche versucht hatten, die Ägäis zu überqueren, ohne dass sie Informationen zu ihnen von den Behörden bekommen hätten.

Mare Liberum hat Informationen zu 301 Pushback-Fällen gezählt, doch die tatsächliche Zahl ist höchstwahrscheinlich deutlich höher. Informationen zu sammeln ist schwierig in einem extrem militarisiertem Grenzgebiet, in der derzeit keine zivilen Zeug:innen zugegen sind und wo Fakten politisch instrumentalisiert werden.

AUGENZEUG*INNENBERICHTE VON PUSHBACKS

Pushback durch maskierte Personen

“Alle trugen schwarze Masken, graue Hemden und Tarnhosen. Zwei von ihnen hatten lange Stöcke. Sie dienten dazu, alle in Schach zu halten, indem sie geschlagen wurden, so dass sie nicht verhindern konnten, dass ein dritter Mann mit einem Messer ein Loch in ihr Beiboot und den Benzinschlauch schnitt.”

Pushback auf kleine Inseln

“Wir waren 25 im Boot. Wir kamen um 4 Uhr morgens auf Samos an. Wir blieben 4 Stunden auf Samos. Die Griechen auf Samos, sie kamen, um uns zu suchen. Die Polizei brachte uns zurück an den Strand und warf uns in ihr Boot. Dann brachten sie uns auf eine kleine Insel. Außerdem riefen sie die Türken, damit sie uns suchen. Sie warfen unsere Taschen und alles andere ins Wasser.”

Pushback von Land

“Sie kamen an Land [Samos] an und wurden in einen Bus gesetzt, aber sie wurden nicht in ein Lager gebracht. Stattdessen wurden sie wieder an die Küste gebracht, in ein winziges, winziges Beiboot gesetzt, wie ein Kinderspielzeug, und dann brachten sie [die griechische Küstenwache] sie auf das Meer und ließen sie dort zurück.”

Pushback durch Sabotage

“Einer von ihnen schoss Kugeln in die Luft und schlug dann auf unser Boot ein. Er klopfte und schlug und schlug und schlug, und er bat den Kapitän, den Motor abzustellen. […] Dann stieg einer von ihnen in unser Boot, er stellte den Motor ab, entfernte den Motor und warf ihn dann ins Wasser.”

Pushback durch Wellen

“[Wir] sahen ein Boot der griechischen Küstenwache. Es war groß und hatte die griechische Flagge drauf… Sie fingen an, unser Boot zurückzudrängen, indem sie Wellen im Wasser erzeugten, die es uns schwer machten, weiterzufahren… Es war wie eine Schlacht – wie in Syrien zu leben, wir dachten, wir würden sterben.”

Die griechischen Küstenwache setzt äußerste Brutalität gegen die Menschen auf den Booten ein und konfisziert Telefone, sodass keine Informationen an die Außenwelt gelangen und um eine mögliche Strafverfolgung zu verhindern. Geflüchtete, die öffentlich Aussagen oder Interviews zu Verbrechen der griechischen Küstenwache gegeben haben, wurden in der Vergangenheit verhaftet oder bedroht.

Die Ägäis ist ein Schauplatz täglicher Menschenrechtsverbechen geworden und eine Black Box für Informationen dazu. Dennoch wurden Pushbacks per Videos, Zeugenaussagen und forensischen Beweisen belegt. Die Europäische Union, und damit auch Deutschland tragen Verantwortung dafür. Es ist schon lange überfällig, dieses System der Abschottung an den europäischen Außengrenzen zu beenden!

© Photos: Maria Klenner / Mare Liberum

Mare Liberum

In der Ägäis finden täglich Menschenrechtsverletzungen statt. Seit 2018 beobachtet Mare Liberum e. V. die Menschenrechtssituation auf Lesbos und in der Ägäis. Ziel ist, die Beobachtung und Dokumentation, sowie die öffentliche Aufmerksamkeit auf die gefährliche Situation an der europäischen Grenze zwischen der Türkei und Griechenland zu lenken. Wir brauchen deine Hilfe, um das öffentliche Bewusstsein zu erhöhen, kollektives Handeln zu fördern und letztlich die Standards für die Achtung und den Schutz der Menschenrechte in Europa zu stärken.

Mare Liberum i. A.

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