Mare Liberum Jahresbericht 2019

2019: Mehr Ankünfte über die Ägäis

Im Jahr 2019 erreichte die Zahl der Ankommenden über das Ägäische Meer ihren Höhepunkt seit dem EU-Türkei-Deal im Frühjahr 2016.1 Laut UNHCR, erreichten 59.726 Migrant_innen die Inseln der Ägäis – davon waren etwa 20% Frauen, 40% Kinder und 40% Männer. Im Vergleich dazu waren in den Jahren 2017 und 2018 jeweils nur etwa 30.000 Menschen auf den griechischen Inseln angekommen. Die Ägäis war 2019 die wichtigste Route für die Flucht nach Europa: das UNHCR verzeichnete 11.471 Ankünfte über das zentrale Mittelmeer, während 26.168 Menschen über das westliche Mittelmeer nach Spanien kamen.2

Mit Beginn des Sommers begann die Zahl der Boote, die auf den ägäischen Inseln ankamen, zu steigen: Im Juni erreichten etwa 3.000 Migrant_innen die ägäischen Inseln, im Juli etwa 5.000, im August weitere 7.000. Im September erreichte die Zahl der Ankünfte sprunghaft mit fast 11.000 ihren Höhepunkt und blieb bis Ende 2019 sehr hoch. In den letzten drei Monaten des Jahres kamen 28.503 Migrant_innen an, was etwa der Hälfte der Gesamtzahl der Ankünfte in 2019 entspricht.3 Am 29. August kamen 16 Boote an der Küste von Lesbos an. Nach Angaben der griechischen Behörden befanden sich auf diesen Booten insgesamt 547 Personen, darunter 177 Männer, 124 Frauen und 246 Kinder – die größte Anzahl Ankommender an einem einzigen Tag seit 2016. Mit dem Anstieg der Ankünfte kam es auch zu erhöhten Spannungen auf den Inseln, sowie Unruhen und Protesten, die auf die sich weiter verschlechternden Lebensbedingungen in den extrem überfüllten Lagern zurückzuführen sind.

Im Vergleich zu der Zahl der Ankommenden wurden etwas mehr Menschen, 60.544, von der türkischen Küstenwache gerettet oder abgefangen und schließlich in die Türkei zurückgebracht.4 In der Türkei werden Migrant_innen in der Regel von der Polizei festgenommen und, mit Ausnahme von syrischen Staatsbürger_innen, in Gefangenenlagern inhaftiert. Da sie keinen sicheren und stabilen Aufenthaltsstatus in der Türkei haben, sind sie bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, unter der Politik des türkischen Präsidenten Erdoğan einem weiteren Abschieberisiko ausgesetzt. Es ist ein weiterer Beleg der schwierigen Bedingungen für Migrant_innen in der Türkei, dass viele bereits mehrmals die Überquerung der Ägäis versucht haben, bis sie schließlich die griechischen Inseln erreichten.

Menschenrechtsverletzungen auf See

Die Überquerung des Ägäischen Meeres in nicht seetüchtigen kleinen Schlauchbooten ist sehr gefährlich. Zum einen sind die natürlichen Bedingungen – Wind, Wellen, Regen – große Hürden, die in einem unsicheren Boot Turbulenzen verursachen können. Zudem sind die meisten Boote mehr als überladen. Die Migrant_innen sitzen sehr oft auf den Seiten von Schlauchbooten und tragen oft keine Schwimmwesten. Wenn sie Schwimmwesten tragen, sind diese oft gefälscht und mit einem billigeren Schaumstoff gefüllt, der in der Realität sinkt, anstatt zu schwimmen. Die leichten Plastikboote sind in der Regel schlecht hergestellt, in miserablem Zustand und absolut ungeeignet, 40-50 Personen zu befördern, was der durchschnittlichen Anzahl an Migrant_innen pro Boot entspricht. Wir stellten fest, dass viele Boote wiederverwendet wurden, mit durch Klebeband geflickten Löchern und nicht befestigten Böden. Letztendlich stehen die Reisenden den griechischen, türkischen und europäischen Grenzschutzbeamt_innen gegenüber, deren Einsätze nicht in erster Linie darauf ausgerichtet sind, Leben zu retten, sondern vielmehr eine schnelle Rettung zu verhindern und die Grenzen Europas zu „schützen“. So werden die Migrant_innen dazu gezwungen, noch gefährlichere Routen zu wählen. Wir hören oft Berichte über Küstenwachen, die Rettungsaktionen hinauszögern oder Gewalt gegen die geretteten Personen anwenden. 

Im Jahr 2019 haben wir die Situation an der Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland weiter beobachtet. Unsere Crew wurde zur Zeugin und dokumentierte mehrere Vorfälle, bei denen sowohl das Frontex-Personal als auch die griechische und türkische Küstenwache am Rande ihres rechtlichen Rahmens operierten. Wir möchten einige dieser Vorfälle hervorheben: 

Am 25. August um 06:16 Uhr morgens beobachtete unsere Crew ein Migrant_innenboot, das sich Lesbos nordöstlich vom Cap Korakas näherte und dann von der griechischen Küstenwache aufgegriffen wurde. Die griechischen Behörden haben die Passagiere nie im Hafen von Mytilene abgesetzt, wie von UNHCR-Mitarbeiter_innen und mehreren Spotting-Gruppen bestätigt wurde. Daraufhin schrieb unser Kapitän eine E-Mail an die griechische Küstenwache, in der er um eine Auskunft über den Aufenthaltsort der Migrant_innen und weitere Informationen über den Vorfall bat. Wir erhielten nie eine Antwort. Als wir zum Büro der Küstenwache gingen, bestätigten sie, dass sie unsere Anfrage erhalten hatten, erklärten aber, dass sie “diese Art von anklagenden E-Mails nicht gerne erhalten” und daher nicht antworten würden. Das “vermisste” Boot wurde nie irgendwo erfasst und unsere Untersuchungen wurden von den griechischen Behörden blockiert, aber angesichts mehrerer anderer Fälle von so genannten „Push-backs“ kann man davon ausgehen, dass das Boot in die Türkei zurückgedrängt wurde. 

Am 8. September veröffentlichte der Bericht Through Refugees Eyes ein Video, das zeigte, wie die türkische Küstenwache Migrant_innen mit Metallstangen schlug, die an Bord eines Schlauchbootes waren, das versuchte, von der Türkei nach Griechenland überzusetzen.

“Liebe Küstenwache: Ich hoffe, dass es in Ihrem Land nie Krieg gibt und Sie gehen müssen. Ich hoffe, dass Sie niemals Menschen gegenüberstehen, die keine Menschlichkeit in ihrem Herzen haben, so wie Sie keine Menschlichkeit in Ihrem Herzen haben. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass das Wasser diesen Menschen vielleicht mehr Gnade entgegenbringt als Sie es tun.“ 5

Unsere Crew konnte mit einigen der Migrant_innen von dem Boot Kontakt aufnehmen, nachdem sie aus dem türkischen Gefängnis entlassen worden waren. Wir konnten das Video verifizieren und weitere Zeugenaussagen von der Person, die die Angriffe gefilmt hatte, sammeln. 

Im Allgemeinen konnte unsere Crew auf dem Schiff Muster der Zusammenarbeit zwischen Frontex, der griechischen und türkischen Küstenwache beobachten und dokumentieren: Die Frontex-Boote patrouillieren zusammen mit der griechischen Küstenwache an der Grenzlinie, um die EU-Außengrenzen vor schutzsuchenden Personen zu verteidigen. Sobald sie Migrant_innenboote in türkischen Hoheitsgewässern entdecken, informiert die griechische Küstenwache ihre türkischen Kolleg_innen, damit die Boote abgefangen werden können, bevor sie griechische Gewässer erreichen. Die Migrant_innen werden dann von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und in Gefängnisse oder Gefangenenlager gebracht, bevor viele von ihnen einen weiteren Versuch unternehmen, die Grenze zu überqueren. 6

Indem die griechische Küstenwache sich dafür entscheidet, die Verantwortung für die Personen auf dem Booten auf die türkischen Behörden abzuwälzen, setzt sie bestehende Strategien zur Durchsetzung der Grenzen fort, die es für Asylsuchende schwieriger und gefährlicher machen, in Sicherheit zu gelangen. Dieser Prozess, der oft als Externalisierung der EU-Grenzen beschrieben wird, blockiert Migrant_innen, bevor sie überhaupt die europäische Küste erreichen. Diese Strategie ist eine Umsetzung der Politik, die im Rahmen des EU-Türkei-Deals von 2016 geschaffen wurde. Darin wurden der Türkei 6 Milliarden Euro versprochen, um zu verhindern, dass Menschen auf der Flucht Europa erreichen. Die Tatsache, dass die griechische und die türkische Küstenwache zusammenarbeiten, um Boote abzufangen, zeigt, dass sie sehr großen Aufwand betreiben, um Menschen am Überschreiten der Grenze zu hindern – obwohl die Türkei nicht als sicheres Land für Migrant_innen angesehen werden kann. 7

Die Realitäten der Überfahrt

Die Realitäten, mit denen Migrant_innen bei der Überquerung der Ägäis konfrontiert sind, sind oft unvorstellbar. Menschen überqueren die Ägäis unter gefährlichen Bedingungen, in untauglichen Schlauchbooten, werden in die Türkei zurückgeschoben (push-backs) oder -gezogen (pull-backs) und immer wieder verhaftet. Im Juni haben wir einen palästinensischen Psychologen aus Gaza interviewt, der zwölf Mal von der türkischen Küstenwache in die Türkei zurückgebracht wurde, bevor er schließlich auf Lesbos ankam. Er verließ die unerträgliche Situation im Gazastreifen, um in Europa Sicherheit und Frieden zu finden, lebt aber derzeit im Hotspot-Lager Moria auf Lesbos.

“Mein erster Versuch fand Ende Januar 2019 statt. Unser Boot verließ das türkische Ufer um Mitternacht. Wir konnten uns nur sehr langsam bewegen, denn wir waren 45 Personen auf einem nur neun Meter langen Beiboot. Einen Kilometer vor Erreichen der griechischen Gewässer sah uns die türkische Küstenwache. Sie rammten zweimal unser Boot, um uns aufzuhalten. Danach nahmen sie uns auf ihr Schiff. Im Grunde behandelte uns die türkische Küstenwache gut. Sie informierte uns jedoch, dass wir etwas Illegales täten und dass sie uns nach Aydin – in ein türkisches Gefängnis – bringen würden.“ 8

Er beschrieb sogar einen Fall, bei dem es sich eindeutig um einen Push-back handelte, wobei jedoch nicht bestätigt ist, welches Schiff dieses illegale Manöver tatsächlich durchgeführt hat:

„In dieser Nacht hielt uns die türkische Küstenwache nicht auf. Zum ersten Mal erreichte ich griechische Gewässer. Dort fing uns ein deutsches Frontex-Schiff ab. Sie sagten, wir müssten auf die griechische Küstenwache warten, und die würden uns an die griechische Küste bringen. Doch stattdessen kam die türkische Küstenwache. Obwohl wir uns in griechischen Gewässern befanden, zogen sie uns zurück in die Türkei. Wir erhielten keine weiteren Informationen.“ 9

Gedenken an diejenigen, die ihr Leben auf See verloren haben

 Foto: Daniel Kubirski

Laut dem Missing Migrants Project von IOM verloren im Jahr 2019 71 Migrant_innen in der Ägäis ihr Leben.10 Die Zahl der nicht registrierten Fälle ist höchstwahrscheinlich viel höher, da Schiffbrüche und der Verlust von Menschenleben auf See oft entweder nicht gemeldet oder gar nicht erst bemerkt werden. Das Welcome2Europe-Netzwerk veranstaltet regelmäßig Gedenkfeiern, um all derer zu gedenken, die an den Grenzen Europas ihr Leben in dem Versuch verloren haben, Sicherheit für sich und ihre Familien zu erlangen. Im Oktober beteiligte sich unser Team an der Erneuerung einer Gedenkstätte in Korakas, Lesbos, die zum Gedenken an die vielen Kinder, die am 27. Oktober 2009 bei einem Schiffsunglück ums Leben kamen, errichtet wurde. Ein Jahr nach dem Schiffbruch errichtete Welcome2Europe eine Gedenkstätte neben dem Leuchtturm von Korakas, wo die Opfer ertrunken waren. Im Jahr 2019 wurde die Gedenkstätte im Gedenken an all jene, die auf der Suche nach Sicherheit das ultimative Opfer bringen, renoviert und die Erinnerung daran gestärkt.

„Gemeinsam erneuern wir die Gedenkstätte, die wir hier vor 9 Jahren errichtet haben, als wir im Oktober 2010 mit der kleinen Marila und ihren Eltern kamen. Wir erinnerten uns gemeinsam mit ihnen an die Nacht vom 27. Oktober 2009, als sie zusammen mit afghanischen Frauen, ihren kleinen Kindern und einigen Minderjährigen auf einem Boot gewesen waren. Kurz vor der Landung in Korakas kippte das Boot um und alle Menschen fielen ins Meer. Yalda (8), Neda (10), Mehdi (4), Zakia, Tsima, Sonia (6), Abdulfasl (3) und Zomaya verloren ihr Leben. Das Baby Marila und ihre Eltern wurden von Stratis gerettet, einem mutigen Fischer, der ins Wasser sprang, um sie zu retten. Ein Jahr später kamen sie zusammen, um sich wieder zu treffen. Und zum Gedenken an dieses Ereignis haben wir dieses Denkmal auf dem Leuchtturm aufgestellt.” 11

Nur wenige Tage nach der Gedenkfeier, am 27. September 2019, ertranken ein Baby, vier Kinder und zwei Frauen, nachdem ein Migrant_innenboot vor der Küste von Chios gekentert war. Neben Lesbos bleiben die Inseln Chios und Samos Ziel vieler Migrant_innen, die versuchen, nach Europa zu gelangen. Als Mare Liberum im Juni nach Samos reiste, trafen wir Mahmoud, dem es tatsächlich gelang, von der türkischen Küste aus nach Samos zu schwimmen, aber er verlor seinen Freund in den Wellen:

“In der Sonne sitzend, mit einem geistesabwesenden Blick, ist Mahmoud. Seine Freunde sagen, er sei verrückt. Mahmoud hat die Ägäis schwimmend von der Türkei nach Samos mit seinem Freund Abdul überquert, weil sie die Schmuggler nicht bezahlen konnten. Auf dem Meer wurden sie getrennt. Mahmoud alarmierte sofort die Polizei, als er auf der Insel ankam. Nach einer erfolglosen Suche und 17 Tagen ohne Nachricht wurde Abduls Leiche gefunden. Mahmoud und eine Gruppe anderer Geflüchteter hielten ein kleines Begräbnis für Abdul ab.” 12

Lebensbedingungen für Migrant_innen setzen Moria der Hölle gleich

Foto: Dylan Lebecki

Jahr für Jahr häufen sich alarmierende Berichte über die schrecklichen Lebensbedingungen für Geflüchtete in den europäischen Hotspots auf den griechischen Inseln und werden immer schlimmer. Mit der Zunahme der Ankünfte – und der nach wie vor geringen Zahl von Relocations auf das griechische Festland – haben sich die Lebensbedingungen in den Hotspots, insbesondere in Moria auf Lesbos, auf ein unbestreitbar unmenschliches Niveau verschlechtert, das weit unter dem liegt, was Migrant_innen in den vergangenen Jahren erlebt haben. Gegen Ende September erreichten die Spannungen in Moria einen Kipppunkt, als im Lager ein Feuer ausbrach, das durch die mangelnde Wartung der Elektrik verursacht wurde. Zusammen mit dem WatchTheMed Alarm Phone und Welcome2Europe veröffentlichten wir eine Erklärung, in der wir die Lebensbedingungen verurteilten und die Schließung des Lagers Moria forderten. Ein paar Zitate aus der Erklärung:

„Gestern, am Sonntag, den 29. September 2019, brach im so genannten Hotspot von Moria auf der Insel Lesbos in Griechenland ein Feuer aus. Eine Frau und wahrscheinlich auch ein Kind kamen bei dem Brand ums Leben, und es ist unklar, wie viele andere verletzt wurden. Wir erheben unsere Stimme in Solidarität mit den Menschen aus Moria und fordern erneut: Die einzige Möglichkeit, diesem Leiden und Sterben ein Ende zu bereiten, ist die Öffnung der Inseln und Bewegungsfreiheit für alle. Diejenigen, die auf den Inseln ankommen, müssen ihre Reise fortsetzen, um hoffentlich anderswo einen Ort in Sicherheit und Würde zu finden. Wir fordern Fähren, um die erschöpften und re-traumatisierten Menschen sofort auf das griechische Festland zu bringen. Wir brauchen Fähren, nicht Frontex.“ 13

Abschiebungen von den griechischen Inseln in die Türkei im Rahmen des Abkommens zwischen der EU und der Türkei finden nach wie vor regelmäßig statt. Im Juli sprachen wir mit Farid über seine Erfahrung, in das Land zurückgeschickt zu werden, aus dem er geflohen war. Er war von Lesbos in die Türkei und dann von der Türkei in den Irak abgeschoben worden. Er beschrieb uns die Situation im türkischen Gefängnis:

“Das Gefängnis [in der Türkei] war überfüllt. Es gab keine Betten, nur Decken zum Schlafen. Zugang zur Toilette gab es nur beschränkt. Auch die Kommunikation mit der Außenwelt war verboten. Die Polizei schrie die ganze Zeit. Ich sah auch, wie ein Polizist jemanden wild mit den Füßen trat.”

Farid blieb zwei Tage lang in diesem Gefängnis. Dann legte ihm die Polizei Handschellen an und brachte ihn in einen Bus. 

“Es war ein großer, überfüllter Bus. Wir waren die ganze Zeit in Handschellen gefesselt. Nach 23 Stunden erreichte der Bus die Grenze zum Irak. Die türkische Polizei nahm den Geflüchteten die Handschellen ab und übergab sie der irakischen Polizei.“ 14

Die Situation auf Chios und Samos ist ähnlich schwierig

Eine Gruppe von Mare-Liberum-Aktivist_innen reiste im Juni 2019 nach Samos und Chios, wo die Bedingungen für Geflüchtete entsetzlich sind. Lesbos ist nach wie vor das wichtigste Ziel für Migrant_innen und auch das Zentrum für die Arbeit humanitärer- und Menschenrechts- NGOs. Die anderen griechischen Inseln erhalten nicht die gleiche Aufmerksamkeit oder die gleichen Ressourcen, und es sind weit weniger NGOs dort aktiv. Auf Samos gingen wir in das berüchtigte Lager, welches sich über die Hügel bis an den Stadtrand ergießt. Die offizielle Kapazität beträgt 650 Personen, aber als wir es besuchten, lebten dort laut UNHCR etwa 3.200 Geflüchtete. Andere NGOs glauben, dass die Zahl der Bewohner_innen in Wirklichkeit weitaus höher liegt, nahezu 5.000 Migrant_innen. Die überfüllte Anlage, der Mangel an grundlegender Hygiene und der Befall mit Nagetieren und Schlangen sind allesamt ein Grund zur Besorgnis und stellen in jeder Hinsicht eine Menschenrechtsverletzung dar. Ein Bewohner des Lagers hat für uns ein zweiminütiges Video über das Lager gedreht, das die erschreckenden Bedingungen zeigt. 15

Wir trafen uns mit vielen Organisationen, die auf Samos und Chios arbeiten, und hatten so die Gelegenheit, Informationen und Sorgen über die Ereignisse in der Ägäis Region auszutauschen. Jeder, mit dem wir auf Samos sprachen, bat uns, wieder zu kommen und dort präsent zu bleiben. Mehrere NGOs wie Samos Volunteers and Refugee4Refugees arbeiten aktiv auf den Inseln, um Migrant_innen die dringend benötigte Unterstützung zu geben, indem sie Bildungsräume und Aktivitäten, rechtliche Unterstützung oder Hilfe bei der Verteilung von Zelten, Schlafsäcken und Hygieneprodukten anbieten. Bogdan, einer der Freiwilligen, mit denen wir gesprochen haben, sagt jedoch, dass sich die Bedingungen im Lager nicht zu verbessern scheinen, sondern sich vielmehr verschlechtern: “Nichts funktioniert. Alles ist kaputt. Welche Prioritäten soll man setzen? Ich will keine Prioritäten mehr setzen.” Wir hatten das besondere Glück, Sofian zu treffen, der einen Lebensmittelladen mit arabischen Produkten betreibt, dessen Geschäft aber gleichzeitig als offener Raum für die Aufnahme von Geflüchteten dient. Sofian selbst kam vor vielen Jahren aus Algerien nach Samos und hilft nun anderen Geflüchteten, einen Platz zum Schlafen und Arbeiten zu finden, wobei er gleichzeitig ein vertrautes Gesicht und eine Quelle moralischer Unterstützung ist. 16

Später fuhren wir auch nach Chios und trafen uns mit lokalen Aktivist_innen und NGOs, die auf der Insel arbeiten. Die Bedingungen, die wir im örtlichen Hotspot Vial erlebten, waren ähnlich schrecklich. Vial bildet keine Ausnahme in den meisten Geflüchtetenlagern in Griechenland. Die Bedingungen sind schrecklich, es ist überfüllt, Toiletten fehlen, das Essen ist entsetzlich, Schlangen und Ratten dringen unaufhörlich in das tägliche Leben der Bewohner_innen ein. NGOs auf der Insel sorgen für die meisten Dienstleistungen und die Versorgung, einschließlich der medizinischen Versorgung und der Verteilung von Grundgütern. Das Chios Eastern Shore Response Team (CESRT) zum Beispiel sorgt laut ihrer Gründerin Toula Kitromilidi, die aus Chios stammt, für 90% der Vorräte des Lagers Vial. Faschistische Gruppen, wie die neonazistische, faschistische Partei Golden Dawn, waren sehr aktiv und haben im Laufe der Jahre bei zahlreichen Gelegenheiten gewaltsame Angriffe auf Geflüchtete verübt. Die Anspannung der Sicherheitslage ist nach wie vor hoch, und die Angst ist groß, da sich viele Geflüchtete noch an die Gewalt von 2016 erinnern, als Einheimische sie mit Steinen und Molotowcocktails beworfen haben.17

Shrinking Space für Menschenrechtsverteidiger_innen in Griechenland

Überall in Europa werden Menschen für ihre Solidarität mit Migrant_innen kriminalisiert. Bürgerinnen und Bürger werden ins Visier genommen, wenn sie Migrantinnen und Migranten zu Polizeistationen begleiten, ihnen in Grenzregionen Nahrung und Schutz bieten oder sie auf See retten. In Italien ermitteln Staatsanwälte gegen Carola Rackete und die Iuventa10. In Malta arbeiten Staatsanwälte gegen die drei Jugendlichen von der ElHiblu. Die französische Justiz hat sich gegen Cédric Herrou ausgesprochen. Und dies sind nur einige Beispiele.

Auch in Griechenland werden Freiwillige und Aktivist_innen für ihre solidarische Arbeit kriminalisiert. So wurden beispielsweise Sara Mardini, Sean Binder und Nassos Karakitsos, die im Süden von Lesbos im Rahmen von Hilfsaktionen an Land aktiv sind, im August 2018 verhaftet und erst nach mehr als 100 Tagen Haft gegen Kaution freigelassen. Die Behörden beschuldigten sie der Spionage, des Schmuggels und der Mitgliedschaft in einem kriminellen Netzwerk, aber der Fall wurde noch immer nicht vor Gericht gebracht. Somit stehen sie auch nach 18 Monaten immer noch vor einer ungewissen Zukunft. Salam Aldeen vom Team Humanity, der in der Vergangenheit wegen seiner solidarischen Arbeit in Griechenland ins Visier genommen worden war, wurde Ende 2019 erneut verhaftet. Am 27. Dezember wurde er schließlich nach 16 Tagen Haft ohne Anklage freigelassen, jedoch mit der Anordnung, Griechenland innerhalb von drei Tagen zu verlassen.

Auch wir von Mare Liberum spüren diesen sich zuziehenden Raum. Diese Fälle von Verleumdung und Kriminalisierung sind gewissenhafte Versuche, die Zivilgesellschaft einzuschüchtern, die Solidarität zu zerstören und die Kluft zwischen uns – Europäer_innen – und ihnen – Migrant_innen – zu vertiefen. Aber wir weigern uns, uns einschüchtern zu lassen. Wir werden uns nicht spalten lassen. Wir werden gegen die Ungerechtigkeiten, die wir sehen, Stellung beziehen. Mehr denn je sind wir entschlossen, für unsere Rechte, für die Rechte anderer Organisationen der Zivilgesellschaft und vor allem für die Rechte der Geflüchteten einzutreten. Diejenigen, die als Reaktion auf diese Drohungen zurückschrecken oder schweigen, überlassen unser Schicksal letztlich den antidemokratischen Kräften.

Mare Liberum gewinnt Berufung vor Gericht

Einschüchterungen richten sich nicht nur direkt gegen einzelne Personen. Im Jahr 2019 lief in Deutschland ein Gerichtsverfahren gegen uns, in dem es darum ging, ob unser Schiff, die Mare Liberum, in Deutschland korrekt als nicht kommerzielles Schiff registriert war. Die Mare Liberum ist ein ehemaliges Fischereischiff, das vor Jahrzehnten zu einer Motoryacht umgebaut worden war. Seitdem war es durchgehend als nicht kommerzielles Schiff registriert. Die Berufsgenossenschaft Verkehr als nationale Schiffssicherheitsbehörde hatte zuvor auf Antrag des Bundesministeriums für Verkehr und Infrastruktur angeordnet, dass die Mare Liberum im Hafen bleiben muss. Ironischerweise beriefen sich die Behörden auf Sicherheitsbedenken und forderten unrechtmäßig eine kleine Motoryacht auf, die Sicherheitsstandards für große Handelsschiffe zu erfüllen, die nicht einmal für staatliche Rettungskutter verbindlich sind.

Nachdem das Verwaltungsgericht Hamburg bereits am 13. Mai 2019 das Fortbestehen dieser Beschlagnahme verhindert hatte, legte die Berufsgenossenschaft Verkehr gegen das Urteil Berufung ein. Am 5. September 2019 bestätigte das Oberverwaltungsgericht Hamburg die Entscheidung in zweiter Instanz. Beide Gerichte kamen zu dem Ergebnis, dass das Schiff Mare Liberum korrekt als gemeinnütziges Schiff registriert ist und unter der operativen Aufsicht seiner internationalen Crew von Freiwilligen weiterfahren darf. Wir können also unsere Mission zur Überwachung der Menschenrechte auf See fortsetzen.18

Richtung 2020

Trotz des Rechtsstreits waren wir von Mai bis Anfang Dezember 2019 operativ. Wir sehen uns als das “zivile Auge” in dieser hoch militarisierten Grenzregion. Unsere Präsenz als unabhängige Beobachter_innen, unsere entsprechende Dokumentation und informative Medienarbeit sind daher wichtig, um die Situation der Migrant_innen auf See zu beeinflussen.

Da sich die politische Situation an den europäischen Außengrenzen voraussichtlich nicht zum Besseren wenden wird, werden wir unsere Mission im Jahr 2020 fortsetzen müssen. Nach Angaben der IOM haben allein im ersten Monat des Jahres 2020 bereits 63 Menschen in der Ägäis ihr Leben verloren.19 Angesichts der anhaltend hohen Zahl der Ankünfte wird die Situation der Geflüchteten auf den Inseln immer verzweifelter. Wir richten unsere Anstrengungen mit Überzeugung darauf, die gefährliche Situation von Migrant_innen bei der Überquerung der Ägäis zu verändern. Mare Liberum wird sich weiterhin für die sichere Durchreise und das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle einsetzen.


  1. Auch die Zahl der Ankünfte über die Landroute bzw. den Fluss Evros blieb hoch. Laut UNHCR erreichten 2019 14,887 Menschen Griechenland über diese Route. Push-backs durch griechische Autoritäten sind an der Tagesordnung (https://bit.ly/2RiGxwk). 
  2. https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean/location/5179 
  3. https://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean/location/5179 
  4. https://en.sg.gov.tr/irregular-migration-statistics-in-the-aegean-sea 
  5. Aus dem Englischen übersetzt; https://www.facebook.com/watch/?v=532092830664474 
  6. https://www.facebook.com/MareLiberumOfficial/photos/a.198832504178994/508742946521280/ 
  7. Davon abgesehen ist die Türkei auch für ihre eigenen Bürger_innen nicht unbedingt ein sicheres Land. 
  8. Aus dem Englischen übersetzt 
  9. Aus dem Englischen übersetzt; https://mare-liberum.org/de/news/who-will-be-held-responsible-for-these-crimes-at-sea 
  10. https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean?migrant_route%5B%5D=1377 
  11. Aus dem Englischen übersetzt; https://bit.ly/2vARCQQ  
  12. Aus dem Englischen übersetzt; https://mare-liberum.org/de/news/alarming-conditions-for-refugees-in-samos 
  13. Aus dem Englischen übersetzt; http://Lesbos.w2eu.net/2019/09/30/this-was-not-an-accident/ 
  14. Aus dem Englischen übersetzt; https://mare-liberum.org/de/news/i-was-like-a-bird-in-a-cage-looking-for-freedom 
  15. https://vimeo.com/340971725 
  16. Weitere Informationen zur Situation in Samos: https://mare-liberum.org/de/news/alarming-conditions-for-refugees-in-samos 
  17. Weitere Informationen zur Situation in Chios: https://mare-liberum.org/de/news/right-wing-tendencies-in-chios-and-greece-threaten-safety-of-refugees-and-activists 
  18. https://mare-liberum.org/de/news/court-rejects-political-attack-on-solidarity-with-refugees 
  19. https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean?migrant_route%5B%5D=1377

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