Nach fünf Jahren Einsatz in der Ägäis haben wir uns schweren Herzens entschlossen, uns von Lesbos zurückzuziehen, unsere Menschenrechtsbeobachtung als Mare Liberum zu beenden und den Verein aufzulösen.
Zuallererst möchten wir uns bedanken, bei allen Menschen, die uns das Vertrauen entgegengebracht haben, uns von ihren Erlebnissen zu berichten und deren Kämpfe wir unterstützen durften. Wir danken allen Menschen, die in den vergangenen fünf Jahren ein Teil von Mare Liberum waren. Wir danken allen unseren Freund:innen, Spender:innen und allen, die uns in irgendeiner Form unterstützt haben. Ohne euch wäre unsere Arbeit nicht möglich gewesen.
Blockade und Kriminalisierung unserer Arbeit
Wie viele andere Organisationen haben auch wir während unserer Zeit in der Ägäis Sabotage, Hindernisse und Repressionen erlebt und das nicht nur in Griechenland. Die griechische Küstenwache hat wiederholte Male versucht, uns einzuschüchtern, durch waghalsige Manöver oder Aufforderungen per Funk, durch wiederholte Kontrollen und Infragestellung unserer Papiere. Außerdem kam zu Auslaufverboten, die mit den Corona-Maßnahmen gerechtfertigt wurden. Zweimal hat das deutsche Verkehrsministerium unter der Führung von Andreas Scheuer (CSU) eine Festhalteverfügung für unser Schiff erlassen, um uns so am Auslaufen zu hindern. Und zu allem Überfluss hat die griechische Polizei unser Schiff gestürmt, durchsucht und ermittelt nun aus fadenscheinigen Gründen gegen uns.
Trotz dieser zahlreichen politisch motivierten Versuche, unsere Arbeit zu unterbinden, haben wir uns nicht davon abhalten lassen, unseren Einsatz mit dem Schiff über Jahre fortzusetzen. Mit Erfolg konnten wir uns – stellvertretend – vor deutschen Gerichten gegen die Ausschaltung großer Teile der zivilen Seenotrettungsflotte mittels der deutschen Schiffssicherheitsverordnung wehren. In Griechenland ist nun jedoch eine neue Ebene erreicht und lässt uns keinen Handlungsspielraum mehr. Letztendlich bewirkt ein repressives Gesetz der griechischen Regierung das Ende unserer Arbeit.
Zwei Ministerialbeschlüsse aus April und September 2020 legen fest, dass sich alle im Land tätigen NGOs in den Bereichen Asyl, Migration und soziale Inklusion offiziell registrieren und zertifizieren lassen müssen. Ohne eine solche Registrierung und Zertifizierung dürfen zivilgesellschaftliche Organisationen nicht mehr in Griechenland arbeiten. Das Verfahren der Registrierung und Zertifizierung schafft hohe bürokratische Hürden. Alle Organisationen müssen eine Reihe von offiziell übersetzten und beglaubigten Dokumenten vorlegen, darunter detaillierte Finanzdaten, persönliche Daten von Mitarbeiter:innen und ehrenamtlichen Unterstützer:innen.
Eine weitere Gesetzesänderung Anfang September 2021 weitete die Registrierungs- und Zertifizierungspflicht auf alle Organisationen im Zuständigkeitsbereich der griechischen Küstenwache aus. Das Gesetz gilt seitdem explizit auch für Rettungsschiffe und Beobachtungseinsätze auf See. Selbst wenn alle Unterlagen mit hohem Kostenaufwand vollständig und einreichen würden, ist das griechische Ministerium für Migration und Asyl befugt, die Registrierung von NGOs und einzelnen NGO-Mitgliedern aus vagen, willkürlichen und missbrauchsanfälligen Gründen abzulehnen. Wir gehen davon aus, dass das Gesetz etwa gegen die EU-Datenschutzrichtlinie verstößt. UN-Sonderberichtersttatter:innen stellten in einem Schreiben an die griechische Regierung fest, dass die Gesetzgebung nicht mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Griechenlands zum Schutz des Rechts auf Vereinigungsfreiheit vereinbar sind. Zunächst wirkt das Gesetz aber gegen die solidarischen Struktur vor Ort. Hatten wir zuvor noch Handlungsspielraum z.B. nach Kontaktaufnahme der griechischen Küstenwache per Funk, so drohen nun seit der Gesetzesänderung hohe Geld- und Gefängnisstrafen für Crewmitglieder, sollten sie den Anweisungen der Küstenwache nicht unmittelbar Folge leisten. Dieses Risiko ist für uns als Verein nicht tragbar. Das gehorsame Ausführen jeden Befehls des Verlassens von Tatorten, ist mit dem Ansinnen unserer Menschenrechtsbeobachtung nicht vereinbar. Unsere Anstrengungen gegen das Gesetz vorzugehen blieben erfolglos.
Wir haben uns immer wieder, den veränderten Bedingungen vor Ort in der Ägäis angepasst, Einsatzkonzepte neu entwickelt und erprobt sowie mit einem uns eigenen Freestyle an vielen Stellen vor Ort konkrete Hilfe leisten und richtige Impulse setzen können. Angetreten als Watchdog gegenüber der Küstenwache, können wir diese für uns zentrale und konstitutive Funktion auf See nicht mehr ausfüllen.
Fünf Jahre Einsatz in der Ägäis – ein Rückblick
Nach dem Sommer der Migration im Jahr 2015, versuchten staatliche Behörden, die Grenzübertritte in den Folgejahren erneut zu verhindern. Führende Politiker:innen in der EU erklärten die Fluchtbewegung für beendet und “die Ordnung” für wiederhergestellt. Doch nur die stärkere Abschottung, ein dreckiger Deal mit der Türkei, Gewalt, illegale Push- und Pullbacks verringerten die Zahlen derer, deren Flucht in die EU gelang.
Als wir im Jahr 2018 unsere Arbeit in der Ägäis aufnahmen, fanden illegale Pushbacks in der Ägäis von der großen Öffentlichkeit unbemerkt statt. Pushbacks, also das gewaltsame Zurückdrängen von Schutzsuchenden über eine Grenze, verstößt gegen das Völkerrecht und beraubt Menschen ihres Rechts auf Asyl. Außerdem gab es nicht dokumentierte Schiffbrüche an den Küsten mit ungezählten und unbemerkten Toten. Die Akteure im Ägäischen Meer waren die griechischen und türkischen Küstenwachen, die EU-Grenzschutzagentur Frontex und die NATO. Auf dem Meer hatten sie quasi freie Hand.
Um die Situation auf See nicht komplett den Behörden zu überlassen, setzten wir uns das Ziel, die Situation Geflüchteter mit dem Schiff auf See zu beobachten. Unser Einsatzgebiet sollte die EU-Seegrenze zwischen der Türkei und Griechenland sein. Hier wollten wir wachen über die menschenrechtskonforme Behandlung von über das Meer Fliehenden. Wir setzten uns zum Ziel, die Situation Geflüchteter zu dokumentieren und Aufmerksamkeit dafür in der europäischen Öffentlichkeit zu schaffen. Insbesondere illegales Verhalten von Behörden auf See würden wir veröffentlichen, so das Vorhaben. Unsere Präsenz sollte die Küstenwachen dazu bewegen, aus Angst vor der Dokumentation illegaler Handlungen und rechtlicher Konsequenzen, Gewalt und Unrecht zu unterlassen. Das Ziel unserer Dokumentation und Berichterstattung zu Pushbacks war, den Druck auf staatliche Akteur:innen zu erhöhen. Die ausführenden Organe der Behörden, die daran beteiligt sind, wollten wir für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen sehen.
Und los ging es. Seit Ende 2017 trafen wir uns, im Januar 2018 trugen wir den Verein Mare Liberum e.V. in Deutschland ein, Sea-Watch überschrieb uns ihr erstes Schiff, das wir MARE LIBERUM tauften und seit April 2018 waren wir auf Lesbos präsent und bereiteten uns, das Schiff und den Einsatz vor. Im August 2018 hatten wir endlich alle nötigen Papiere zusammen, um im September zum ersten Beobachtungseinsatz in den Norden der Insel mit der MARE LIBERUM auszulaufen.
Gerade als wir unser Einsatzgebiet erreichten, wurden unser Schiff und unsere Crew zum ersten Mal von FRONTEX kontrolliert. Wie auch in den folgenden Jahren, nahmen wir die Einschüchterung und Repression der Behörden als Beweis dafür, dass wir gesehen wurden und unser Ansatz funktionierte: Sie fühlten sich beobachtet und sie wollten uns als Zeugen nicht an der Grenze haben.
Während unseres Einsatzes mit dem Schiff erfassten wir viele Pushbacks, führten Interviews mit Überlebenden von Pushbacks und Augenzeug:innen, sowie in einigen Fällen genauere Untersuchungen anstellen, um damit im Laufe der Jahre einen Beitrag zur medialen Thematisierung von Pushbacks in der Ägäis zu leisten.
Im Jahr 2019 erreichten 60.000 Migrant:innen die griechischen Inseln, so viele wie seit dem EU-Türkei-Deal im Frühjahr 2016 nicht mehr. Nochmal so viele Menschen wurden allerdings von der türkischen Küstenwache abgefangen und in die Türkei zurückgebracht. Unsere Crew wurde zur Zeugin und dokumentierte mehrere Vorfälle, bei denen sowohl das Frontex-Personal als auch die griechische und türkische Küstenwache am Rande ihres rechtlichen Rahmens operierten. Wir veröffentlichten Berichte von Abgeschobenen sowie von Menschen, die die Überfahrt überlebten und in eines der Lager eingewiesen wurden. Wir berichteten über das Festsitzen der Überlebenden in den Camps auf Lesbos, Chios und Samos, die sowohl an ihrer Weiterreise wie auch an ihrem Ankommen gehindert wurden.
Anfang 2020 spitzte sich die Lage nochmal dramatisch zu. Der türkische Präsident Erdoğan änderte in einem politischen Kalkül die Taktik der türkischen Küstenwache, um Druck auf die EU auszuüben. Die Boote von Migrant:innen wurden auf ihrem Weg nach Griechenland fortan nicht mehr von der türkischen Küstenwache aufgehalten. Die extreme Rechte in Griechenland machte sich die Situation zu Nutze und heizte Gewaltausbrüche gegen Migrant:innen an und gegen geplante Camp-Anlagen an. Auch unsere Crews wurden in dieser Zeit bedroht und angegriffen. Dennoch beschlossen die Aktivist:innen zu bleiben.
Und so blieben Crewmitglieder über Monate im Einsatz, als die Corona-Pandemie auch die Fluchtbewegung traf. Die Zahl der im Camp Moria ausharrenden Migrant:innen war bereits auf über 20.000 gestiegen. Einem Camp, welches ursprünglich für 2.000 Menschen zum kurzen Verbleib konzipiert wurde. Auf den griechischen Inseln insgesamt, mussten 40.000 Menschen ihr Dasein in Camps fristen, ohne Aussicht auf weitere Schritte, ohne hygienische Standards, ohne Gesundheitsversorgung, mit schlechter Nahrungsversorgung und mit fehlender Selbstbestimmung. Wir warnten die europäische Öffentlichkeit über Monate, dass diese unaushaltbaren Zustände noch explodieren würden, bevor ein Feuer ausbrach und Moria zerstört und 20.000 Menschen auf der Straße schlafen mussten.
Im Schatten von Covid und den Spannungen zwischen der Türkei und der EU wurden die Mitglieder der Küstenwachen immer offener gewalttätig. Gedeckt von der neuen rechten Regierung in Griechenland und etwa der EU-Kommissarin Von der Leyen, kam es zu einer neuen Qualität an Gewalt und Pushbacks, die bis heute anhält. Seit März 2020 ist Mare Liberum Zeugin einer dramatischen Zunahme von Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis geworden, auf See wie an Land. Die gesammelten Daten gaben wir erstmals 2020 in Form eines ersten Pushback-Reports heraus. Fast 10.000 illegale Zurückweisungen und Missachtungen des Rechts auf Asyl mussten festgestellt werden. Damit erreichten die Menschenrechtsverletzungen ein Niveau, das wir auch im Pushback-Report 2021 erneut attestieren mussten und das leider bis heute nicht wieder verlassen wurde.
Seit September drohten unseren Crews und unserem Verein hohe Strafen, sollten wir mit dem Schiff auslaufen. Folglich konzentrierten wir uns darauf, die Situation in der Ägäis – ohne Schiff – von der Küste aus zu beobachten. Wir verlagerten unsere Arbeit vom Meer auf Recherche an Land. Die Grundlage der Nachforschungen bildete vor allem das Sammeln von Zeug:innenaussagen von Überlebenden, aber auch von lokalen Bewohner:innen nach einem einheitlichen Schema und Kriterien. Die transkribierten Zeug:innenaussagen in der Datenbank des Border Violence Monitoring Network (BVMN) veröffentlicht. Im gesamten Zeitraum des Einsatzes an Land wurden 21 Zeug:innenberichte erfasst und die Ergebnisse als Bericht im September 2022 veröffentlicht.
Die aktuelle Lage in der Ägäis
Seit 2020 beobachten wir einen verstärkten Anstieg der Gewalt gegen Menschen auf der Flucht. Nicht nur die Anzahl der Fälle betreffend, sondern auch in ihrer Brutalität. Menschenrechtsverletzungen in Form von illegalen Pushbacks durch die griechischen Behörden auf See stellen den Modus Operandi im Umgang mit Menschen auf der Flucht dar. Mittlerweile ist es auch eine etablierte Praxis, dass Menschen, die bereits die griechischen Inseln erreicht haben, illegal zurück in türkische Gewässer gezwungen werden. Immer wieder werden schutzsuchende Menschen in Rettungsinseln oder seeuntauglichen Booten auf dem offenen Meer ausgesetzt. Sie werden von Booten ins Meer gestoßen. Manchmal sind ihre Hände dabei mit Handschellen gefesselt. Die Sicherheistbeamt:innen wenden nicht nur Gewalt und Demütigungen, sondern auch Folter an.
Die brutalen Pushbacks von Land aus führen dazu, dass sich immer mehr Menschen, nach ihrer Ankunft auf einer der griechischen Inseln, in den Wäldern verstecken, aus Angst vor den Behörden. Immer wieder sterben dabei Menschen, an fehlender medizinischer Versorgung, Durst, Hunger oder an Kälte.
Die Überlebenden sehen sich einer systematischen Kriminalisierung ausgesetzt. In den meisten Fällen wird bei der Ankunft eines Bootes mindestens eine Person verhaftet. Die dann meistens wegen “Beihilfe zur illegalen Einreise” bzw. “Schleusung” verurteilt wird, weil sie angeblich das Boot gesteuert hat, in dem sie selber floh. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Zugang zu angemessenen Rechtsbeistand und Unterstützung werden die Menschen systematisch zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt. Es gibt kein “faires” Verfahren für die Angeklagten, das sich an das geltende Recht hält. Laut dem griechischen Justizministerium stellen angebliche “Schlepper” die zweitgrößte Gruppe in griechischen Gefängnissen dar. Es sind jedoch die Schutzsuchenden, die bei ihrer Ankunft hinten am Motor saßen.
Anti-Migrationskurs wird rechtlich legitimiert
Es ist ein Skandal, dass keine zivilen Monitoring-Organisationen oder Rettungsschiffe zwischen der Türkei und Griechenland mehr operieren können – denn Menschenrechtsbeobachtungen in der Ägäis sind wichtiger denn je.
Immer wieder versuchen verschiedene Akteure auch auf rechtlicher Ebene den Zugang zu Asyl zu erschweren und die tödliche Abschottungspolitik der EU zu legitimieren.
Die oben erläuterten Beschränkungen für NGOs die sich mit Asyl, Migration und sozialer Integration beschäftigen, in Kombination mit systematischen Repressionen und Kriminalisierung führen dazu, dass immer weniger Solidaritätsstrukturen in Griechenland arbeiten können. Gleichzeitig wird auch das Recht auf Asyl in Griechenland erheblich eingeschränkt. So erklärten die griechischen Behörden die Türkei im Jahr 2021 pauschal als sicheren Drittstaat für Menschen aus Afghanistan, Syrien, Somalia, Pakistan und Bangladesch. Das ermöglicht den griechischen Behörden, Schutzsuchende systematisch ohne Prüfung des Antrags auf Asyl in die Türkei abzuschieben.
Auch auf EU-Ebene gibt es immer wieder Versuche, das Recht auf Asyl einzuschränken. So hat der Rat “Inneres und Justiz” der Europäischen Union im Dezember 2022 über die sogenannten Instrumentalisierungverordnung diskutiert die den EU-Mitgliedsstaaten erlauben würde, das Asylrecht einzuschränken, wenn sie eine vermeintliche Bedrohung der “nationalen Sicherheit” sehen. Diese Verordnung hat zum Ziel, den Zugang zu Asyl zu erschweren und die tödliche Abschottungspolitik der EU rechtlich zu legitimieren. Bereits im Oktober 2021 forderten zwölf EU-Mitgliedsstaaten in einem Schreiben an die Kommission die Reform des Schengener Grenzkodex, um Pushbacks zu legalisieren. Diese ernstzunehmenden Versuche, Gewalt gegen Fliehende zu legalisieren, sind alarmierend.
Was bleibt zu tun?
Griechenland braucht dringend einen unabhängigen Überwachungsmechanismus an den Grenzen und in den Lagern. Es muss eine unabhängige Untersuchung geben, und die Verantwortlichen für ihre Verbrechen müssen vor Gericht gestellt werden, damit die Praxis der Pushbacks endlich aufhört.
Letztlich muss jedoch die Grenzpolitik als Ganzes geändert werden, nicht nur in Griechenland, sondern in der gesamten EU. Es braucht sichere Korridore in die EU und die garantierte Einhaltung von Menschenrechten für alle Menschen, nicht nur für Europäer:innen.
Während wir uns gezwungen sehen, unsere Arbeit als Mare Liberum einzustellen und unseren Verein mit Wirkung zum 1. Mai 2023 auflösen, gibt es zahlreiche Projekte vor Ort, die sich für Geflüchtete einsetzen und die es zu unterstützen lohnt wie zum Beispiel:
- Siniparxis
- Borderline Lesvos
- Legal Center Lesbos
- Lesvos Solidarity
- Wave of Hope
- WISH Women in solidarity
- Zusammenland, die unser Schiff übernommen haben und es wieder in den Einsatz an den Außengrenzen der EU bringen wollen: https://mare-go.de/