Mare Liberum hat recherchiert, dass seit März diesen Jahres über 8.000 Menschen illegal und unter Anwendung brutalster Gewalt in der Ägäis über die griechisch-türkische Seegrenze zurückgedrängt wurden. Wird über Pushbacks, also das Zurückdrängen von Flüchtenden über eine Grenze durch die europäischen und nationalen Grenzschutzbehörden gesprochen, liegt der Fokus zumeist auf dem rechtlichen Aspekt. Denn jeder einzelne Fall eines Pushbacks stellt unweigerlich einen Rechtsbruch sowie eine Verletzung der Menschenrechte dar. Dabei rückt manchmal in den Hintergrund, wie entmenschlichend, erniedrigend und traumatisierend Pushbacks als strukturell etabliertes, politisches Instrument sind.

Pushbacks nehmen Flüchtenden den legalen Zugang zum Asylsystem und somit die Chance, internationalen Schutz zu bekommen. Für diesen Schutz müssen Menschen auf der Flucht großes Leid ertragen, sie sind körperliche rund psychischer, häufig auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt, und riskieren auf der Reise oft mehrfach ihr Leben. Es gibt keine sichereren Fluchtwege, sodass das illegale Einreisen für viele Flüchtende die einzige Möglichkeit darstellt, einen Asylantrag zu stellen. Nicht zuletzt die Überfahrt in seeuntüchtigen und hoffnungslos überfüllten Schlauchbooten stellt dabei eine konkrete Lebensgefahr dar. Durch Pushbacks wird diese ohnehin lebensgefährliche Überfahrt nicht nur zu einem potentiell tödlichen Unterfangen. Den Fliehenden wird auch der Zugang zum Asylsystem systematisch verwehrt. Nach dem Erreichen von europäischem Boden bzw. Gewässern wieder zurückgedrängt zu werden, stellt darüber hinaus eine hochgradig traumatisierende Erfahrung dar.

Neben der systematischen Entmenschlichung durch Pushbacks ist deren tatsächliche Ausführung nicht weniger problematisch. An dieser Stelle geht es um das Verhalten der griechischen Küstenwache in der Ägäis, welche aktuell die Hauptakteurin beim ‚Schutz‘ der europäischen Außengrenze vor Ort ist, aber auch um Frontex und NATO, die mit ihnen kooperieren. Bei Pushbacks auf dem Meer sind Flüchtende den Grenzschutzbehörden und ihren gewaltvollen und menschenverachtenden Praktiken noch einmal hoffnungsloser ausgesetzt, als auf dem Land. Es ist einfach, entdeckt zu werden und nahezu unmöglich zu entkommen. Regelrechte Hetzjagden enden nicht selten in Gewaltexzessen. Pushbacks verdeutlichen, dass die Leben der Flüchtenden sowie ihr schlichtes Überleben für die Küstenwache keinerlei Wert zu haben scheinen. Die Menschen werden aktiv in Seenot gebracht, auf dem Meer ausgesetzt, geschlagen, beschossen oder anderweitig gedemütigt und angegriffen. Viele Geflüchtete auf Lesbos können von Pushbacks berichten und jeder dieser Berichte verdeutlicht die Traumata, welche Flüchtende auf dem Meer erfahren. Ein Mann berichtete, wie die Mannschaft der Küstenwache wiederholt auf die Insass:innen eines Bootes mit langen Stangen einprügelte. Die Frauen im Boot hielten einige Kinder in die Höhe, um zu zeigen, dass keine Gefahr von ihnen ausgehe und in der Hoffnung einen Rest an Menschlichkeit von den Autoritäten zu erfahren. Vergeblich – sie wurden weiter angegriffen.

Oft hören wir, dass sowohl die griechische als auch die türkische Küstenwache den Menschen in den Booten persönlich Gegenstände wie Handys, Ausweisdokumente oder gleich ganze Taschen und Rucksäcke abnehmen und diese ins Meer werfen. In einem Fall wurden alle Menschen, die sich auf einem Schlauchboot auf dem Weg nach Lesbos befanden, an Bord eines Schiffes der griechischen Küstenwache gebracht. Die Küstenwache nahm ihnen alle Handys ab und unter dem Vorwand eines Coronatests wurde jede:r einzeln in einen separaten Raum gebracht. Statt getestet zu werden, mussten sich alle nacheinander ausziehen und sich einer Ganzkörperdurchsuchung unterziehen, die auch rektale und vaginale Durchsuchungen mit einbezog. Die Küstenwache behielt neben den Handys auch die Kleidung, Schuhe sowie die Perücken einiger Frauen. Die Menschen wurden nach der Durchsuchung in bloßer Unterwäsche zurück in das Schlauchboot gesetzt und wieder in türkische Gewässer geschleppt.

Mit Demütigungen wie diesen erkennen die Behörden Flüchtenden das Recht ab, als Menschen und in Würde behandelt zu werden. Abgesehen von dem Rechtsbruch, den ein Pushback darstellt, handelt es sich um einen Akt massiver physischer und psychischer Gewalt. Die Nachricht ist deutlich: Egal wie schlimm es in eurem Herkunftsland ist, bleibt dort! Flüchtende werden dabei wie eine homogene Masse behandelt, die es zu erziehen gilt und die für ihren Fluchtversuch bestraft werden muss, um eine Wiederholung zu verhindern. Abschreckung durch kollektive Folter wird somit systematisch als politisches Instrument an der Außengrenze Europas eingesetzt. Dass diese politische Strategie nicht funktioniert, hat sich in den letzten Jahren mehr als deutlich gezeigt. Das Einzige was dadurch erreicht wird ist, dass Menschen gebrochen und Leben zerstört werden. Die Flüchtenden sind derweil dazu gezwungen, noch gefährlichere Routen zu wählen und aus Geldmangel in noch schlechtere Boote zu steigen. Denn die meisten, die in die Türkei zurückgepusht wurden, versuchen es wieder, und wieder. Aus dem einfachen Grund, weil sie keine andere Option haben. Wir haben mit einem Mann gesprochen, der es erst beim 12. Versuch schaffte mit seiner Familie die Ägäis zu überqueren. Sein 5-jähriger Sohn ist bereits nach dem dritten Versuch bis heute verstummt.

Wir gehen davon aus, dass seit März über 8.000 Flüchtende zurückgepusht wurden. Ioannis Plakiotakis, Minister für Minister für Schifffahrt und Inselpolitik, also auch für die Küstenwache verantwortlich, sprach unlängst stolz von 10000 Menschen, deren Ankunft verhindert wurde. Das Leid hinter diesen Zahlen ist unermesslich und doch zum Alltag in der Ägäis geworden.

Wir dürfen diese menschenverachtende Praxis der Pushbacks und die zutiefst gewaltvolle europäische Grenzpolitik, bestehend aus Abschottung und Abschreckung, nicht hinnehmen! Zeigt Solidarität mit Flüchtenden und Geflüchteten, prangert die brutalen Taten der Grenzschutzbehörden an, protestiert gegen die Festung Europa und kämpft gegen Rassismus auf jeder Ebene!

Mare Liberum i. A.

Gneisenaustraße 2a
10961 Berlin