Ende Februar öffnete Erdogan die Grenzen und trieb als Demonstration seiner Macht in einem perfiden politischen Spiel tausende Geflüchtete an die Grenzen. Es war, als hielten alle den Atem an in der Erwartung, dass Massen von Booten die griechischen Inseln erreichen würden. Einige wenige kamen an und dann: Nichts! Die Zahl der Ankommenden fiel auf einen historischen Tiefstand mit einer nie dagewesenen Dauer von 35 Tagen, ohne dass ein einziges Boot Lesbos erreichte. Das liegt nicht daran, dass es weniger Menschen gibt, die sich gezwungen sehen aus ihren Heimatländern zu fliehen, sondern daran, dass das Ägäische Meer zu einer geschlossenen, militarisierten Zone geworden ist, in der systematisch brutale Taktiken angewandt werden, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht, die Menschenrechte oder die Leben der Geflüchteten.

Zum Beispiel ist die Zahl der Pushbacks auf der griechischen Seite der Ägäis dramatisch angestiegen. Die illegale und oft gewalttätige Praxis, Geflüchtete zu stoppen, nachdem sie die Grenze bereits überquert haben und sie entweder auf türkisches Land zurückzubringen oder sie in türkischen Gewässern treibend zurückzulassen, ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht und die Genfer Konvention. Ja, es gab schon vorher regelmäßige Push- und Pullbacks, und jeder Fall ist eine persönliche Tragödie und ein Verbrechen. Aber jetzt ist nicht nur die Quantität, sondern auch die “Qualität” gestiegen. Es ist zu einer gängigen Praxis geworden, dass die Küstenwache und Frontex den Motor von Migrant:innenbooten stehlen oder zerstören und sie hilflos treibend zurücklassen, wobei der Tod der Geflüchteten biligend in Kauf genommen wird. Außerdem gab es in letzter Zeit auch mindestens sieben dokumentierte Berichte über Migrant:innen, die in Rettungsboote gesetzt und auf das Meer geschleppt wurden, um sie ihrem eigenen Schicksal zu überlassen. Die neueste Entwicklung geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt genau genommen eine Form von Entführung dar. In mindestens drei Fällen landeten Boote auf einer griechischen Insel und die Menschen gingen an Land. Nachdem die Küstenwache informiert wurde (ein normales Verfahren) und eintraf, verschwanden alle Menschen: Nirgends zu finden, nirgends registriert. Nur um später auf dem Meer oder einer felsigen Insel in türkischen Gewässern wieder aufzutauchen. 

Der jüngste Bericht des Border Violence Monitoring Networks zeigt, dass dies auch an Land ein systematisches Verhalten ist. Im Laufe von 6 Wochen wurden mindestens 194 Geflüchtete, die in Lagern auf dem Festland lebten, von der Polizei auf brutale Art illegal in die Türkei gebracht. Das Verschwinden von Menschen ist in der Regel ein Charakteristikum eines totalitären Regimes und nicht das eines demokratischen Landes im Jahr 2020! Aber genau das passiert derzeit. Der griechische Asylminister Mitarakis hat zwar in einem deutschen Artikel erklärt, es werden nur alle legalen Möglichkeiten genutzt, um Asylsuchende an der Überfahrt in griechische Gewässer zu hindern, aber die Beweise dafür, dass Pushbacks angeordnet werden, sind unbestreitbar. Anfang März hat sich eine dänische Frontex-Einheit offen geweigert einen Pushback durchzuführen, weil sie der Meinung war, dass dies das Leben der Menschen im Boot gefährden würde (Migrant:innen wurden schon früher bei von Frontex durchgeführten Pushbacks getötet). Sie erklärten auch, dass nicht nur Frontex, sondern auch die griechische Küstenwache den Befehl haben illegale Pushbacks durchzuführen. Diese schockierenden Informationen enthüllen ein menschenverachtendes, brutales System mit dem Ziel die Grenzen der Festung Europa abzuschotten. Dies ist ein Verhalten im Stil einer Miliz nicht das einer EU-Operation – einer EU, die den Friedensnobelpreis erhalten hat und sich mit ihren moralischen Werten brüstet.

Das Schlimmste ist vielleicht, dass dies nur die Berichte sind, die uns erreichen. Da die Mare Liberum nicht auf das Meer hinausfahren darf, um die Situation zu beobachten und Menschenrechtsverletzungen zu melden, gibt es keinen zivilen Akteur in der Ägäis. Die Ägäis ist zu einem rechtsfreien Raum geworden, in dem Menschen erbarmungslos misshandelt werden. Und das ist nur, was in der Ägäis passiert, gar nicht von der Situation entland der türkish-griechischen Grenzen, der Balkan Route oder der Katastrophe, die sich im Zentralen Mittelmeer abspielt

Es ist an der Öffentlichkeit zu protestieren und deutlich zu machen, dass diese verabscheuungswürdigen, tödlichen Operationen in keiner Weise akzeptabel sind! Organisiert euch! Werdet wütend! Mischt euch ein! Es steht viel auf dem Spiel, wenn wir diese Verbrechen an den Grenzen Europas einfach hinnehmen.

Mare Liberum i. A.

Gneisenaustraße 2a
10961 Berlin