Dürfen wir überhaupt nicht mehr segeln?

Die griechischen Behörden missbrauchen ihre Macht, um Zeug*innen aus Gebieten fernzuhalten, die zum Hauptschauplatz regelmäßiger Grenzverbrechen gegen Menschen geworden sind, die auf der Suche nach Sicherheit Europa erreichen wollen. Obwohl in den letzten zwei Jahren versucht wurde, die Menschenrechtsarbeit der Organisation zu verhindern, ist Mare Liberum seit gestern, dem 21. Oktober 2021, wieder im Einsatz. Kurz nach der Ankunft an unserer Beobachtungsstelle im Norden von Lesbos am gestrigen Abend, wurde die Crew angewiesen, das Gebiet zu verlassen und in einen sechs Stunden entfernten Hafen zurückzukehren. Der E-Mail-Betreff der Hafenbehörde in Mytilene “Sicherheit von Menschenleben auf See” ist ein blanker Hohn. Es gibt keine rechtliche Begründung dafür, dass unser Schiff nicht in das Gebiet darf – sondern eine klare politische Absicht.

Mytilene, 22. Oktober 2021 – Gestern verließ die MS Mare Liberum 1 den Hafen in Skala Loutron in Richtung ihres üblichen Ankerplatzes im Norden von Lesbos, um von dort aus zu beobachten. Genau dieser Bereich der europäischen Außengrenze ist der Hauptschauplatz systematischer und gewaltsamer Pushbacks von Menschen auf der Flucht. Allein in diesem Jahr wurden vor Lesbos mindestens 156 Fälle illegaler Pushbacks bekannt, in denen rund 5.000 Migrant*innen zurückgedrängt wurden.

Nachdem die Crew unseren Beobachtungspunkt am Lamna-Riff erreicht hatte, näherte sich ein Boot der griechischen Küstenwache unserem Schiff. Der Offizier der Küstenwache wies uns an, den Ankerplatz zu verlassen, da das Schiff eine Gefahr für “Operationen der griechischen Behörden” darstelle.

Kurz darauf verließ die Crew den Ankerplatz und bat die Hafenbehörden per E-Mail um die Angabe des Sperrgebiets. Deren Antwort entlarvt ihre wahren Absichten: “Kehren Sie zu Ihrem ursprünglichen Ankerplatz im Hafen von Skala Loutron zurück und halten Sie einen sicheren Kurs in Küstennähe, bis Sie die Gründe für den Einsatz in Gebieten, die unserer Zuständigkeit unterliegen, schriftlich dargelegt haben.”

“Die Begründung, es gehe ihnen um den “Schutz von Menschenleben auf See”, kann kaum ernst genommen werden, da sich in diesem Gebiet vor weniger als drei Monaten ein Schiffsunglück ereignet hat. Die griechische Küstenwache verbot der ausgebildeten Such- und Rettungsmannschaft der Nomad, sich an der Suche zu beteiligen: Zwei Frauen und ein Kind wurden nie gefunden. Wenn wir nicht mehr in der Ägäis operieren dürfen, bleibt diese Außengrenzen alleinig den Verursachern von Menschenrechtsverletzungen und Grenzverbrechen überlassen: Die griechische Küstenwache, Frontex und die NATO”, sagt Marie Read, Crewmitglied von Mare Liberum.

Wir haben weder eine schriftliche Anordnung erhalten, die uns das Segeln im Norden von Lesbos verbietet, noch eine Erklärung, warum wir nicht segeln dürfen. Es gibt kein NAVTEX über Fahrbeschränkungen in diesem Gebiet. Tatsächlich liegen viele Fischereifahrzeuge vor Anker und treiben um das Lamna-Riff herum. Dennoch scheint die MV Mare Liberum 1 das einzige Schiff zu sein, das aufgefordert wurde die Region zu verlassen.

Bereits auf der Fahrt nach Norden – und sogar noch vor dem Auslaufen im Hafen -– wurde unsere Crew von zahlreichen Behörden und Akteur*innen in der Ägäis kontaktiert, darunter Hafenpolizei, griechische Küstenwache, griechische Marine und Frontex. Die meisten von ihnen verlangten Papiere, fuhren neben unserem Schiff her, machten Fotos von der Crew und verfolgten unser Schiff.

Weitere Informationen 

Das Team von Mare Liberum dokumentiert Rechtsverletzungen durch Küstenwachen und Frontex in der Ägäis und veröffentlicht regelmäßig Berichte und Ergebnisse seiner Menschenrechtsbeobachtung. Der kürzlich erschienene ‘Pushback Quarterly Report’ zeigt die drastische Zunahme der Pushback-Praxis durch die griechische Küstenwache – geduldet und unterstützt durch Frontex und die NATO – während der letzten Monate.

Menschen auf der Flucht werden systematisch ihrer Rechte beraubt und in die Türkei zurückgedrängt, wobei sie exzessiver Gewalt bis hin zur Folter ausgesetzt sind. Seit März 2020 haben wir mehr als 700 Pushback im ägäischen Meer gezählt: Fast 20.000 Menschen wurden gewaltsam und rechtswidrig an der Einreise in die EU gehindert, um Asyl zu beantragen. In den letzten drei Monaten hat sich die Situation erneut verschärft: Normalerweise zählten wir durchschnittlich 35 Pushbacks pro Monat, aber allein in den letzten drei Monaten haben wir 198 dokumentierte Vorfälle registriert, bei denen ungefähr 5.000 Menschen illegal in türkische Gewässer zurückgedrängt wurden.

Mindestens 156 Fälle von illegalen Pushbacks vor Lesbos sind in diesem Jahr bekannt geworden. Dabei wurde mindestens 5.000 Menschen das Recht genommen in der EU Asyl zu suchen. Weiterhin ist die Fluchtroute von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos die meist genutzte in der Ägäis, insofern sind die Zahlen der Ankünfte und Pushback-Fälle dort am höchsten.

Neben einem mittlerweile aufgehobenen und für nicht rechtens erklärten Auslaufverbots des deutschen Verkehrsministeriums, haben auch Covid-19-Restriktionen, politisch motivierte polizeiliche Ermittlungen und ein anhängiges Gerichtsverfahren den Einsatz auf See in den letzten zwei Jahren fast vollständig eingeschränkt. Umso wichtiger ist es, dass die Menschenrechtsorganisation Mare Liberum ihre Mission nun wie geplant fortsetzen kann.

Mare Liberum i. A.

Gneisenaustraße 2a
10961 Berlin