Interview mit einer Aktivistin von Welcome2Europe
In der ersten Märzwoche eskalierte die Situation auf den griechischen Inseln in der Ägäis. Auf Lesbos propagierten rechte und rassistische Gruppierungen, dass die Insel wieder „griechisch“ sein soll. Scheinbar plötzlich waren Menschen auf der Straße, Barrikaden wurden errichtet, um NGOs an ihrer Arbeit zu hindern, Geflüchtete und Helfer:innen wurden von Rechten bedroht, Fahrzeuge und Einrichtungen angegriffen. Auch das Schiff Mare Liberum und die Crew waren betroffen von den Angriffen. Über Nacht zeigte die internationale Öffentlichkeit kurzzeitig Interesse an diesem Ort. Obwohl hier eine der wichtigsten Fluchtrouten nach Europa entlangführt und mit Moria der größte Hotspot in Europa besteht, war Lesbos aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verschwunden. Inzwischen ist aber der Fokus wieder verschwunden, denn alle sprechen nur noch über Corona. Aber auf Lesbos steht nicht alles still. Über 20.000 Menschen leben in Moria und den anderen Camps , viel zu nah aneinander auf engstem Raum unter unwürdigsten Bedingungen. Die EU Grenzpolitik der Externalisierung ist die Ursache für diese katastrophale Zustände und daraus entstehende Konflikte. Die Situation kann sich hier nur ändern, wenn sich die Migrationspolitik der europäischen Staaten ändert, und die EU-Außenpolitik, die mitverantwortlich ist für die Kriege und ökonomische Krisen, vor denen viele der Ankommenden fliehen. So wie die gewaltvolle Eskalation auf der Insel nicht nur lokal erklärt werden kann, greift es auch zu kurz sie als kurzfristiges Ereignis zu erklärt. Wir machen den Versuch einen Rückblick auf das ganze Jahr 2020 zu werfen, obwohl die Entwicklungen natürlich noch weiter zurück gehen. Dazu haben wir einer Aktivistin vom welcome2europe Netzwerk ein paar Fragen gestellt und Antworten erhalten, wie sie die Entwicklungen sieht, die zur gegenwärtigen Situation auf der Insel geführt haben.
Was würdest du sagen, wie sich die Entwicklungen der letzten Monate erklären lassen?
Es war ein Zusammenspiel der Politik der neuen konservativen Regierung und Politiker:innen der Nea Dimokratia, die an der Macht sind, die auch Beziehungen zu lokalen Rassist:innen pflegen, aber auch zu sogenannten empörten Bürger:innen, die sich jetzt trauen, die Macht auf der Straße in die Hand zu nehmen. Der Bürgermeister von Mytilini bedankte sich bei diesen Leuten und die Justiz hat erstmal zwei Wochen gebraucht und bei mehreren rassistische Angriffe zugeguckt, bevor sie reagiert und aktiv geworden sind. Die Rassist:innen nutzten den Erfolg der gesamte Bevölkerung im Widerstand gegen den Bau des Knastes für Neuankommende, den die Regierung versucht hatte mit Polizeigewalt durchzusetzen. Sie nutzten den Moment, um auf der Straße gegen Geflüchtete, solidarische Teile der Bevölkerung und NGOs zu agieren.
Welche Rolle haben welche Akteure gespielt? Wie hat sich der Diskurs verändert?
Der Hass auf NGOs läuft seit längerem und wurde von der neue Regierung und deren Medien hoch gehalten und gestärkt. Obwohl beim lokalen Ministerium seit Jahren Registrierungen für NGOs geführt werden, wurde Anfang des Jahres beschlossen, dass diese nicht mehr gültig sind und alle sollten sich in ein sehr kurzen Zeitraum in Athen beim nächsten Ministerium melden. Nur die sich in Athen neu anmelden, gelten als anerkannt. Bei über 90 NGOs nur in Lesbos, die zum Teil aus dem Ausland kommen und nicht so kurzfristig ins Ministerium in Athen können, eine Unmöglichkeit. Außerdem wurden in den Medien Listen veröffentlicht, welche NGOs von der griechische Regierung Geld und wie viel bekommen haben und die meisten waren unbekannte griechische NGOs, die vor Ort, zumindest auf Lesbos nie präsent waren. Parallel dazu werden in den Medien die landesweit größtenteils der Nea Dimokratia nah sind, also nur ihre Position verbreiten, NGOs als de Kriminelle dargestellt, die Geld verdienen und keine Steuern zahlen und Interesse daran haben, dass Flüchtlinge ankommen damit sie weiter Spenden sammeln können. Dass das eine Verdrehung der Realität ist, wird jetzt schon sichtbar, wo viele NGOs sich schon nach den rassistischen Angriffen zurückgezogen haben aus Moria und von der Insel und es keinen staatlichen Ersatz gibt, für die ganze Arbeit, die sie geleistet haben. Das viele Geld was seit Jahren durch die NGOs in die lokale Ökonomie fließt, (hohe) Mieten für Häuser und Wohnungen, Mietautos, Lebensmittel, die auch von vielen bewusst lokal gekauft werden, Material, Hotels, die voll sind von Frontexianer und Journalist:innen… vom diesen Gewinnen ist nie die Rede. Erst wenn alle weg sind werden sie merken, was sie vermissen. Über die Geflüchteten, die als Feind dargestellt werden, wird oft behauptet, es seien keine Geflüchteten, sondern alles Migrant:innen obwohl die Zahlen das absolute Gegenteil beweisen. Es sind oft auch die ahnungslose Menschen die Theorien verbreiten: Afghan:innen sind keine Geflüchteten, nur Syrer:innen, es kommen vor allem Männer an usw. In beiden Beispielen zeigen die offiziellen Zahlen des UNHCR das Gegenteil: Auch Menschen aus Afghanistan haben Flüchtlingsstatus, es kommen mehr Frauen und Kinder an als Männer. Auch griechische Minister:innen verbreiten solche Lügen in der Öffentlichkeit und unterstützen so diesen Hass, der auf falschen Infos basiert.
Welche Ereignisse waren einschneidend?
Einschneidend war der gemeinsame Widerstand gegen die mit Polizeigewalt versuchte Durchsetzung des Baus des neuen Knastes, die ein Erfolg war. Das hat den Faschist:innen und Rassist:innen den Glauben gegeben, gestärkt von dem Widerstand der Vielen, dass sie jetzt alles in die Hand nehmen können und sie haben mit Straßenblockaden um Moria, Angriffe auf Geflüchtete, NGO-Menschen und Autos und dann weiteren Straßenblockaden reagiert. Sie wurden von Bürgermeister bejubelt und von der Justiz viel zu lang nicht gestoppt.
Wie denkst du wird es weitergehen?
Seit Jahren ist die Situation so, dass wir alle denken es kann nicht schlimmer werden, aber es wird immer schlimmer. Deswegen habe ich keine Vorstellung was noch kommen kann. Meine Vorstellungskraft kann dieser Realität nicht folgen.
Siehst du eine Perspektive?
Ich kann nur mein Traum immer wieder erzählen das Lesbos und die anderen Inseln zusammen mit den türkischen Städten gegenüber, Izmir, Aivalik, Dikeli, eine friedliche Koexistenz führen und, dass das Meer dazwischen kein Grab mehr ist, sondern ein verbindende See, eine Brücke. Und, dass die Menschen auf der Flucht dahin gehen und bleiben können, wo sie wollen und ganz schnell eine neue Existenz aufbauen können um schnellstens gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu werden.