Im Oktober 2020 überquerte Salam* zusammen mit 15 Menschen aus Syrien und Afghanistan den Fluss Evros von Edirne in der Türkei nach Griechenland. Sie liefen bis zum nächsten Morgen durch den Wald auf der griechischen Seite des Grenzgebiets. Als sie sich ein paar Stunden ausruhten, wurden sie von der griechischen Grenzpolizei entdeckt.

„Um 10 Uhr morgens, nach zwei Stunden, war ich sehr müde. Als ich schlief, rief uns das ‘Kommando’ [griechische Grenzpolizei] zu: ‘Aufwachen! Wachen Sie auf!’ Sie hatten Stöcke dabei. Einer aus unserer Gruppe rannte weg, aber zwei Kommandos holten ihn ein und schlugen ihn immer wieder.”

Die griechischen Polizeibeamt:innen bedrohten die Gruppe, misshandelten sie und beraubten sie all ihrer Habseligkeiten. Nach einer Stunde wurden alle in ein Gefängnis gebracht. Dort wurde die Gruppe erneut durchsucht und mit dem Tod bedroht, falls sie noch irgendwelche Gegenstände verstecken würden. In dem Gefängnis befanden sich etwa 70-80 Personen, und keiner der Gefangenen wurde mit Wasser oder Nahrung versorgt.

“Das Gefängnis war kein [echtes] Gefängnis. Es war ein Wartesaal. Kein Essen, kein Wasser, keine Betten. Es gab nur zwei Toiletten, die nicht sauber waren. Wir warteten dort von 13 Uhr bis Mitternacht.”

Um Mitternacht kamen weitere bewaffnete Beamt:innen in das Gefängnis, die der Befragte nicht als Polizei, sondern als eine Art private Armee identifizierte. Mit brutaler Gewalt wurden die Menschen gezwungen, sich bis auf die Unterwäsche auszuziehen, und alle 70 bis 80 wurden in einen Transporter ohne Fenster gepfercht. Eine Stunde lang musste die Gruppe in dem überladenen Wagen warten, bis sie zum Fluss Evros zurückgebracht wurden.

Am Fluss angekommen, musste die Gruppe bis auf die Unterwäsche entkleidet und ohne Schuhe in einer Reihe sitzen und durfte nicht aufblicken. Die Beamt:innen folterten die Menschen mindestens eine Stunde lang.

“Er [der Beamte] sagte uns: ‘Wenn ihr ein weiteres Mal nach Griechenland kommt, werde ich euch töten! Wir werden euch töten!’ Wir waren etwa 80 und auf jeder Seite standen zwei [Beamte]. Sie schlugen uns eine Stunde oder zwei Stunden lang, ich weiß es nicht mehr.”

Sie wurden dann auf ein Boot zurückgedrängt, das von zwei Personen gesteuert wurde, bei denen es sich offenbar nicht um Angehörige der griechischen Polizei handelte:

“Zwei Personen unterhielten sich in arabischer und türkischer Sprache. Sie gehörten nicht zu den ‘Kommandos’ oder der griechischen Polizei. Sie [steuerten] das Boot auf die andere Seite zur Türkei hinüber. Einer nahm ein Seil von den Bäumen auf der türkischen Seite zu dem Baum auf der griechischen Seite. Er brauchte nicht zu rudern, er konnte das Boot einfach mit dem Seil ziehen. […] Als wir ins Boot stiegen, schlug uns das ‘Kommando’, und als wir im Boot waren, schlug uns diese Person. Schlug, schlug, schlug uns. Die ganze Zeit über schlugen sie uns. Mein Auge war geschwollen, und mein Bein und meine Hand waren ganz schlimm davon. Nachdem wir den Fluss überquert hatten, ging er zurück zu den ‘Kommandos’.”

Zurück auf der türkischen Seite wurden Salam und andere Mitglieder der Gruppe von der türkischen Polizei entdeckt. Die Beamt:innen verfolgten die Gruppe. Glücklicherweise konnte Salam entkommen.

Das System der Pushback-Helfer

Salams Erfahrung von einem Pushback durch die griechische Polizei, unterstützt von Migrant:innen, ist kein Einzelfall. Die Ausbeutung der sogenannten Pushback-Helfer, Migranten, die gezwungen oder genötigt werden, für die griechische Polizei an der türkisch-griechischen Grenze andere Migrant:innen illegal zurückzudrängen, ist seit langem bekannt.

Bereits seit 2020 veröffentlicht das Border Violence Monitoring Network Testimonies von Menschen auf der Flucht, die ähnliche Erfahrungen wie Salam gemacht haben. Im April 2022 veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht, der auf den Erfahrungen von 16 Pushback-Überlebenden in der Evros Region basiert. Sie berichteten, dass die Boote, die sie in die Türkei zurückbrachten, von nicht-griechischen Männern gesteuert wurden, die südasiatische Sprachen oder Arabisch sprachen, die unter den Migrant:innen in diesem Gebiet üblich sind. Alle der Befragten berichteten, dass die griechische Polizei in der Nähe war, als die Männer die Migrant:innen in kleine Boote zwangen und wieder auf die türkische Seite des Grenzflusses brachten. Diese nicht-griechischen Männer trugen oft schwarze Uniformen oder Kommandouniformen sowie Sturmhauben, um ihre Identität zu verschleiern. Eine im Juni 2022 veröffentlichte Recherche des Spiegels kam zu ähnlichen Ergebnissen. Die Aussagen von sechs Männern, die berichteten, dass sie gezwungen wurden, an Pushbacks von Migrant:innen in die Türkei teilzunehmen, wurden mit Hilfe eines Reporterteams bestätigt.

Die zahlreichen Testimonies von Pushback-Überlebenden und die veröffentlichten Untersuchungen zu diesem Thema zeigen ein sehr eindeutiges Muster auf. Das System hinter den sogenannten Pushback-Helfern sieht folgendermaßen aus:

Wenn die griechischen Behörden eine Gruppe von Geflüchteten festnehmen, die gerade die Grenze von der Türkei nach Griechenland überquert haben, wählen sie meist junge Männer aus, die Englisch, aber auch Arabisch oder Türkisch sprechen. Sie bieten ihnen Geld an, offenbar etwa 200 Dollar pro Monat, manchmal auch mehr. Sie bieten zusätzlich ein so genanntes “Ausreisedokument” ab, das ihnen erlaubt, in Griechenland zu bleiben oder in ein anderes europäisches Land zu reisen. Im Gegenzug müssen sie der griechischen Grenzpolizei etwa drei bis sechs Monate lang bei illegalen Pushbacks helfen. Die Angst vor einer erneuten Abschiebung in die Türkei und die fehlenden Aussichten auf Asyl in Griechenland veranlassen viele Menschen dazu, mit den griechischen Behörden zu kooperieren. Allerdings haben die meisten keine Wahl, als zu akzeptieren, denn wenn Migrant:innen dieses Angebot ablehnen, werden sie Berichten zufolge verprügelt und in die Türkei zurückgeschoben. Auch erhalten nicht alle Menschen Geld für solche “Deals”, sondern werden gezwungen, ohne Bezahlung für die griechische Grenzpolizei zu arbeiten. Es wird berichtet, dass sich die Menschen nicht frei bewegen können, weil die griechische Polizei sie stetig kontrolliert. Einige Personen werden fast die ganze Zeit von der griechischen Polizei festgehalten und nur nachts freigelassen, um Pushbacks durchzuführen.

Die Aufgabe der Pushback-Helfer ist es, andere Migrant:innen, die von den griechischen Behörden aufgegriffen und in griechischen Sicherheitszentren festgehalten werden, zurück über die Grenze zu drängen. Die Pushback-Helfer fahren die Boote, die den Fluss Evros überqueren und die Schutzsuchenden zurück in die Türkei zu bringen. Oft werden sie gezwungen oder genötigt, die hilflosen Menschen auszurauben und ihr Geld, ihre Handys und ihre Kleidung an sich zu nehmen. Manchmal dürfen sie auch die gestohlenen Sachen behalten, die die griechischen Behörden zuvor an sich genommen haben. Wenn die Pushback-Helfer nach ein paar Monaten wieder freigelassen werden, erhalten einige die versprochenen Papiere und machen sich auf den Weg nach Europa. Es wird jedoch berichtet, dass einige Migranten langfristig für die griechische Grenzpolizei arbeiten. Sie bilden Gruppen, die sich um das Zurückdrängen von Menschen auf der Flucht kümmern. Sie dienen auch als Abschreckung für Menschen, die sich noch in der Türkei befinden und einen Grenzübertritt in Erwägung ziehen.

Dies ist ein grausames, aber profitables Geschäft für die griechische Grenzpolizei. Die griechischen Beamten müssen den Fluss Evros nicht selbst überqueren. Erstens ist es lebensgefährlich, den breiten Fluss mit einem kleinen Boot zu überqueren, und zweitens müssen sie sich nicht selbst in die Nähe der türkischen Grenze begeben, was bei den Pushbacks zu Konflikten mit dem türkischen Militär führen könnte. Die beiden Länder befinden sich seit langem in einem Territorialkonflikt.

Moderne Sklaverei von Migrant:innen

Das Zurückdrängen von Schutzsuchenden über eine Grenze ist nicht nur grausam und menschenfeindlich, sondern auch illegal. Pushbacks verstoßen gegen zahlreiche Menschenrechtsnormen, wie das Verbot der Kollektivausweisung, das Recht auf Asyl und den Grundsatz der Nichtzurückweisung. Diese Praxis hat sich zu einem gängigen Muster von Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant:innen durch das europäische Grenzregime etabliert. Obwohl mehrfach bewiesen wurde, dass die griechische Küstenwache und die griechische Grenzpolizei regelmäßig Pushbacks durchführen, leugnet die griechische Regierung kategorisch, dass Pushbacks durchgeführt werden, und bezeichnet solche Behauptungen als “Fake News” oder “türkische Propaganda”.

Die Tatsache, dass Schutzsuchende selbst gezwungen werden Pushbacks durchzuführen, stellt eine neue Stufe der Brutalität des griechischen Pushback-Systems dar. Nicht nur werden Schutzsuchenden Menschenrechte verweigert und sondern sie werden auch noch gezwungen sich an diesen illegalen Praktiken zu beteiligen. Migrant:innen werden von den griechischen Behörden ausgenutzt, um illegale Einsätze gegen andere Schutzsuchende durchzuführen. Das Ausmaß des Einsatzes ist unbekannt. Klar ist, dass die griechischen Behörden die Angst der Schutzsuchenden vor einer Abschiebung in die Türkei und das repressive Asylsystem nutzen, um Schutzsuchende zu zwingen, ihre Drecksarbeit zu machen. Diese Praxis ist praktisch moderne Sklaverei und ist die schreckliche Realität von Migrant:innen, die versuchen, in Europa Sicherheit zu finden.

Da es keine sicheren und legalen Korridore in die EU gibt und das Asylsystem in Griechenland äußerst restriktiv ist, haben die meisten Schutzsuchenden keine andere Wahl als zu versuchen, die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland klandestin zu überqueren. Dieser Mangel an sicheren und legalen Korridoren macht somit Räume für Machtmissbrauch und Ausbeutung von Menschen auf der Flucht erst möglich. Die Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverbrechen müssen unverzüglich zur Rechenschaft gezogen werden.

*Name geändert

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