Einleitung

Pushbacks im Jahr 2021

Das Jahr 2021 kann als weiteres Jahr angesehen werden, in dem sich der brutale Krieg, den die EU gegen Migration führt, intensiviert hat. Gewaltsame Pushbacks wurden dabei auch im vergangenen Jahr systematisch an europäischen Land- und Seegrenzen durchgeführt und stellen einen elementaren Teil dieses unmenschlichen Grenzregimes dar. Der vorliegende Bericht wirft einen Blick auf die Gewalt, die gegen fliehende Menschen an der griechisch-türkischen See-grenze in der Ägäis im Jahr 2021 angewendet wurde. Denn bei Pushbacks handelt es sich nicht nur um illegale Akte, bei denen Menschen auf der Flucht über eine Grenze zurückgedrängt werden, sondern um zutiefst menschenfeindliche und gewaltsame Akte. Der Pushback-Bericht 2021 zeigt, wie im Sinne des “Grenzschutzes” Gewalt, Demütigungen und Folter als strategische Mittel eingesetzt werden, um Fliehende abzuwehren. Anhand von verfügbaren Daten sowie insbesondere Zeug:innenberichte von eben jenen Menschen, die der Gewalt an den Außengrenzen ausgesetzt sind, soll ein Beitrag zur Dokumentation des Unrechts geleistet werden, welches an Europas Grenzen zur Normalität geworden ist. Die in diesem Bericht dokumentierte Grenzgewalt kann dabei stets nur einen Ausschnitt davon darstellen, was an den EU-Außengrenzen täglich passiert.

Während die EU im vergangenen Jahr weiter täglich gewaltsame Pushbacks ausüben ließ, zeigte sich EU-Kommissarin Ylva Johansson wiederholt bestürzt hinsichtlich der Gewalt, die an Europäischen Grenzen passiert, als hätte man davon all die Jahre nichts gewusst. Die Aussagen der EU-Kommission besitzen, wenn überhaupt nur symbolische Bedeutung. Reale Konsequenzen folgen aus den öffentlichen Verurteilungen von Pushbacks zumeist nicht – im Gegenteil. Anstatt Pushbacks zu stoppen, forderten im Oktober 2021 zwölf EU-Mitgliedsstaaten in einem Schreiben an die Kommission die Reform des Schengener Grenzkodex, um Pushbacks zu legalisieren.1 Diese ernstzunehmenden Versuche Gewalt gegen Fliehende zu legalisieren, ist auch Ausdruck eines sich in der Folge des “Sommers der Migration” 2015 verstärkenden Rechtsrucks und dem Aufschwung nationalistischer Kräfte in vielen EU-Mitgliedstaaten.2

Pushbacks und die lange Geschichte Europäischer Grenzgewalt

Dass „Pushback“ zum Unwort des Jahres 2021 gekürt wurde, ist Ausdruck einer ohne Zweifel in den letzten Jahren immens gewachsenen medialen Aufmerksamkeit. „Mit dem Begriff werde ein menschenfeindlicher Prozess beschönigt“, begründete die Jury der sprachkritischen Aktion ihre Wahl.3 Im Jahr 2021 wurden zahlreiche Berichte und Recherchen zu den illegalen Pushback-Praktiken der griechischen Küstenwache sowie insbesondere den Verwicklungen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex veröffentlicht. Die gewachsene öffentliche Aufmerksamkeit sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pushbacks alles andere als ein neues Phänomen darstellen. Bereits im Jahr 2007 berichtete Pro Asyl – lediglich ohne dabei den Begriff „Pushback“ zu verwenden – wie Fliehende gewaltsam von der griechischen Küstenwache in türkische Gewässer zurückgedrängt und ihre Boote dabei absichtlich beschädigt wurden.4 Ausgehend von Interviews, die die Organisation mit Geflüchteten auf Chios, Samos und Lesbos durchführte, wird deutlich, dass auch das Aussetzen von fliehenden Menschen auf unbewohnten Inseln sowie die Anwendung brutaler Gewalt bereits übliche Praktiken der griechischen Küstenwache in der Ägäis darstellten. Doch auch ein Verweis auf die 2000er Jahre scheint zu kurz gegriffen. So beschreibt die Migrationsforscherin Lena Karamanidou im Interview mit Mare Liberum, dass es schon in den 1980er und 1990er Jahren regelmäßig und in systematischer Weise an der griechisch-türkischen Grenze zu Pushbacks kam, wie besonders Zeug:innenberichte von Wehrpflichtigen in der Evros-Region zeigen.

Europa war von Beginn an ein Projekt, dass sich nach außen hin abgeschottet hat, auch wenn es sich stets mit freiheitlichen Werten brüstete. Auch wenn der Bericht sich auf die Entwicklungen des vergangenen Jahres fokussiert, sollte die Kontinuität europäischer Grenzgewalt nicht aus den Augen verloren werden. Und auch Mare Liberum will zurückblicken, nicht nur auf die Missionen im Jahr 2021, sondern auch auf das Jahr 2017 als die Mare Liberum 1, damals noch als Sea Watch 1 bereits Monitoring in der Ägäis betrieb.

Die zwei Gesichter Europäischer Asylpolitik 

Dass das Europäische Grenzregime bestimmte Menschen reinlässt und andere nicht, verdeutlicht auch die Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine, die am 24. Februar 2022 begann und die Veröffentlichung dieses Berichtes überschattet. Bereits in den ersten drei Wochen nach Kriegsbeginn flohen laut UN rund 2,3 Millionen Menschen aus der Ukraine in benachbarte Länder.5 Die EU reagierte diesmal schnell: Im Eiltempo wurden Maßnahmen beschlossen, die fliehenden Menschen aus der Ukraine unbürokratisch Zuflucht gewähren sollen. So wurde zunächst ein Schutzmechanismus aktiviert, der die Aufnahme von ukrainischen Staatsbürger:innen ohne Asylantrag ermöglicht. Die rechtliche Grundlage für diese Politik der Aufnahme stellt die EU-Richtlinie 2001/55/EG6 dar, die seit ihrer Verabschiedung noch nie aktiviert wurde. Die Direktive, die am 20. Juli 2001 von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Reaktion auf den Balkankrieg der 1990er Jahre verabschiedet wurde, ermöglicht, dass Fliehende ohne bürokratische Hürden auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden können.7 Außerdem sorgt die Richtlinie dafür, dass Schutzsuchende aus einem bestimmten Land unkompliziert Aufenthaltstitel, Arbeitserlaubnisse und Zugang zu Sozialleistungen erhalten können. Auch die Residenzpflicht entfällt, denn die Direktive ermöglicht eine Umgehung des Dublin-Verfahrens. Ukrainische Staatsbürger:innen können nun ohne bürokratische Hürden in die EU einreisen und bleiben. Dass diese Reaktion richtig ist, steht außer Frage. Dennoch wird deutlich, wie selektiv die EU fliehenden Menschen Schutz ermöglicht. So blieb die Richtlinie beispielsweise während des Sommers der Migration 2015 ungenutzt.

Die Humanität, mit der die EU nun brüstet, steht ebenfalls in einem scharfen Kontrast zu den tausenden Fliehenden aus dem Irak, Afghanistan oder Syrien, die im vergangenen Jahr an der polnisch-belarussischen Grenze strandeten,8 um nur ein jüngeres Beispiel zu nennen. Und auch jetzt wird nicht allen Menschen mit Aufnahmebereitschaft begegnet: So gilt die nun durchgesetzte Direktive explizit nicht für Angehörige von Drittstaaten, die zum Zeitpunkt des Krieges in der Ukraine leben, es sei denn sie haben dort bereits einen langfristigen Aufenthaltsstatus.9 Hinzu kommt, dass sich bereits in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn Berichte über in der Ukraine lebende People of Color häuften, die teilweise gewaltsam von den Evakuierungszügen ausgeschlossen wurden und tagelang an Grenzen warten mussten.10

Solidarische Praxis muss allen Menschen gleichermaßen gelten. Wir setzen uns dafür ein, dass allen Menschen ihre Rechte auf Asyl und Bewegungsfreiheit zugestanden werden.

[2] Kasparek, Bernd (2021). Europa als Grenze: eine Ethnographie der Grenzschutz-Agentur Frontex. Bielefeld: transcript.

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