Interview mit Lena Karamanidou

​​Lena Karamanidou ist eine unabhängige aktivistische Forscherin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das europäische Grenzregime, die EU-Agentur Frontex, Gewalt, Pushbacks und Infrastrukturen an der griechisch-türkischen Landgrenze sowie Migrationspolitik und -diskurse in der EU und Griechenland.

Das Interview wurde im Dezember 2021 geführt. Pushbacks werden im Text als PB abgekürzt

Mare Liberum: Die öffentliche Berichterstattung über Pushbacks hat in den letzten Jahren zugenommen, auch in den Mainstream-Medien. Seit wann wissen wir von PBs in der Ägäis?

Lena Karamanidou: Die systematische Berichterstattung und Dokumentation von PBs geht auf die Jahre 2007/2008 zurück, als Berichte von Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch und Pro Asyl veröffentlicht wurden, und hat sich seitdem fortgesetzt. Menschen, die ihren Militärdienst an der griechisch-türkischen Grenze abgeleistet haben, haben bereits in den 1980er Jahren von systematischen Pushback-Praktiken gesprochen und die Nationale Menschenrechtskommission hat in den frühen 2000er Jahren über solche Praktiken berichtet. Von Ende der 1980er bis Anfang der 2010er Jahre gab es mehr Berichte über PBs an der Landgrenze als in der Ägäis, da die meisten Menschen damals versuchten, über Evros und nicht über die ägäischen Inseln nach Griechenland und in die EU einzureisen. Nach 2015 verlagerte sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Inseln, und seither hören wir vermehrt von PBs in der Ägäis. Aber es war schon immer bekannt, dass es Pushbacks gibt, insbesondere an der Landgrenze.

ML: Wenn wir auf die ersten dokumentierten PBs und aktuelle Fälle blicken, können wir PBs und andere Formen von Grenzgewalt aus der Vergangenheit mit aktuellen Entwicklungen überhaupt vergleichen? Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede lassen sich feststellen?

LK: Es ist recht schwierig, einen angemessenen Vergleich anzustellen, da die uns vorliegenden Daten einfach nicht vergleichbar sind. Die Informationen stammen aus sehr unterschiedlichen Quellen. Einige Berichte stammen von Nichtregierungsorganisationen, andere von unabhängigen Aktivist:innen, und viel Material ist auch in den Medien zu finden. Als Vergleichspunkt würde ich sagen, dass es im Laufe der Jahre immer wieder zu PBs gekommen ist, und zwar unabhängig von der Anzahl und der Schwere der Gewalt. Pushbacks hat es schon immer gegeben – sie haben nicht erst im Jahr 2020 begonnen. Nach dem, was wir wissen, haben PBs in den letzten Jahren zugenommen, insbesondere seit März 2020, wie die Akteur:innen vor Ort in Griechenland berichten. Aber auch hier wäre ich vorsichtig mit der Behauptung, dass eine bestimmte Praxis oder ein bestimmtes Muster völlig neu ist, ohne zu recherchieren, was in älteren Berichten steht.

ML: Einige Berichte legen nahe, dass PBs erst seit 2015 systematisch auftreten. Sind Sie im Gegensatz dazu der Meinung, dass bereits zuvor systematisch PBs durchgeführt wurden und es nicht nur eine signifikante Anzahl von Einzelfällen gab?

LK: Ich denke, dass das Narrativ der “Einzelfälle” für die verantwortlichen Regierungen sehr bequem ist. Es erlaubt den Regierungen, sie als einzelne Vorfälle darzustellen, anstatt die Existenz eines ganzen Systems von Grenzgewalt rechtfertigen zu müssen. In Evros zum Beispiel, wo ich aufgewachsen bin, war es stets Teil des lokalen Wissens, dass PBs durchgeführt werden. Es gibt Zeug:innenberichte aus den 1980er und 1990er Jahren, vor allem von Wehrpflichtigen, in denen es heißt, dass es ständig zu PBs kam. All diese Berichte, die sich über so viele Jahre erstrecken, deuten eindeutig darauf hin, dass es sich um eine gängige Praxis handelt und nicht um isolierte und unzusammenhängende Ereignisse. Aufgrund dieser enormen Beharrlichkeit im Laufe der Zeit kann man nicht wirklich behaupten, dass sie einmal oder zweimal passiert sind. Dieses Muster besteht schon seit sehr langer Zeit und wurde von der griechischen Regierung stets geleugnet. Ich glaube, dass sich das Bild heute ein wenig gewandelt hat und die Regierung PBs weit weniger leugnet. In gewisser Weise geben sie die Praxis zu, stellen PBs aber als legitime und legale Maßnahmen dar. Framing ist wichtig.

ML: Es gibt keine offiziellen Statistiken über PBs, also haben wir es mit vielen verschiedenen Quellen und Arten von Dokumentation zu tun. Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Dokumentationspraxis seit den 90er Jahren verändert?

LK: In einigen Gebieten gibt es heute mehr Akteure vor Ort als noch vor ein oder zwei Jahrzehnten. In der Ägäis beispielsweise sind seit 2015 mehr NGOs und Aktivist:innen präsent, und es gibt auch mehr Akteur:innen, die zur Dokumentation von Grenzgewalt beitragen, wie Aegean Boat Report. Im Fall von Evros sammelt das Border Violence Monitoring Network seit 2019 aktiv Zeug:innenaussagen, zusätzlich zu griechischen NGOs wie HumanRights360. Wir haben also viel mehr Berichte, obwohl Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, Pro Asyl und der Griechische Flüchtlingsrat auch vorher schon Zeug:innenaussagen gesammelt haben, aber eben nicht in der Regelmäßigkeit. Der zweite wichtige Punkt, insbesondere in der Ägäis, ist, dass wir mehr visuelle Dokumentation haben. Zahlreiche Videos, die von Fliehenden, die ihre eigenen PBs dokumentieren, mit Smartphones aufgenommen wurden, werden mit NGOs und Monitoring-Organisationen geteilt. Natürlich war diese Art der visuellen Dokumentation in Zusammenhang mit der Nutzung sozialer Medien in den 1980er oder 1990er Jahren nicht möglich.

ML: Die Dokumentation von PBs kann insbesondere im Hinblick auf die gegenwärtige Repression eine ziemliche Herausforderung darstellen. Wie haben sich die mit der Dokumentation verbundenen Herausforderungen verändert?

LK: In Evros ist der Zugang zu den Orten, an denen PBs normalerweise stattfinden, unmöglich, da das Gebiet am Fluss seit jeher ein militärisches Sperrgebiet ist und der Zugang daher verboten ist. Es besteht ein hohes Risiko, wegen Spionage verhaftet zu werden. Daher war eine visuelle Dokumentation, wie wir sie in den letzten Jahren auf den Inseln gesehen haben, immer äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich.

Ich bin mir nicht sicher, ob in der Ägäis damals Menschen vor Ort diese Art von Dokumentation betreiben konnten. Während die visuelle Dokumentation durch Fliehende, Aktivist:innen und Organisationen zugenommen hat, hat auch die Repression deutlich zugenommen. Sie steht in engem Zusammenhang mit der allgemeinen Kriminalisierung von Aktivist:innen und Solidarität in ganz Europa, aber speziell bei der Dokumentation von PBs in Griechenland bedient sich die Regierung verschiedener Strategien, um die Beweise zu leugnen. Sie bezeichnen sie als “Fake News”, behaupten, es gäbe keine zuverlässigen Beweise oder es handele sich um türkische Propaganda. Dies sind einige der Narrative, die die griechische Regierung verwendet, um die Beweise abzustreiten. Die Kriminalisierung führt möglicherweise nicht zu einer tatsächlichen strafrechtlichen Verfolgung, sondern ist eher eine Einschüchterungskampagne, die über die Medien verbreitet wird und die Androhung strafrechtlicher Verfolgung nutzt, um Organisationen davon abzuhalten, Grenzgewalt zu beobachten und zu dokumentieren.

ML: PBs sind mittlerweile recht gut dokumentiert und die Beweise für Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis sind überwältigend. Rechtliche Konsequenzen und politische Veränderungen bleiben jedoch aus. Welche Bedeutung hat die Dokumentation von PBs angesichts der aktuellen Situation noch?



LK: Die Dokumentation der Situation an den Grenzen ist wichtig, aber gleichzeitig wäre ich nicht optimistisch, dass sich durch eine verstärkte Dokumentation wirklich etwas ändert. Auf den Inseln in der Ägäis gibt es Gruppen von Aktivist:innen und Anwält:innen, die gemeinsam versuchen, mit Hilfe von Dokumentationstechniken weitere PBs zu verhindern. Das ist besser als nichts. Aber wenn es darum geht, PBs als systematische Praxis zu stoppen, bin ich überhaupt nicht optimistisch, da das politische Klima in Europa die Praxis des PBs derzeit offen unterstützt. Außerdem gibt es immer wieder Versuche, PBs zu legalisieren. In einem von zwölf Mitgliedsstaaten unterzeichneten Schreiben wurde die Europäische Kommission aufgefordert, den rechtlichen Rahmen des Schengen-Abkommens zu überarbeiten, um die legale Praxis von PBs zu ermöglichen. Polen und Litauen haben auf nationaler Ebene Gesetze zur Legalisierung von Pushbacks eingeführt. Es gibt starke Bemühungen um eine Normalisierung von PBs, anstatt sie als Praxis aufzugeben. Bedenken über Menschenrechtsverletzungen und PBs werden derzeit hauptsächlich von EU-Kommissarin Ylva Johansson geäußert. Ich denke, dass die formale Verurteilung von PBs die Tatsache verschleiert, dass die Kommission eher nicht bereit ist, ernsthafte Maßnahmen gegen die Praxis der PBs oder die Gewalt an den Grenzen im Allgemeinen zu ergreifen. Ich fürchte, dass ich hier nicht wirklich optimistisch sein kann. Wir müssen anerkennen, dass es in der Europäischen Union über die Jahre hinweg ein Narrativ gegeben hat, das tatsächlich auf menschenrechtskonforme Grenzpraktiken gedrängt hat. Nun aber drängen die Mitgliedstaaten und die Kommission in die andere Richtung – hin zur Legalisierung und Normalisierung von Grenzgewalt und PBs. Ich persönlich halte eine menschenrechtskonforme Grenze ohnehin für unmöglich, denn Grenzen – ob Außen- oder Binnengrenzen – werden immer gewalttätig sein.

ML: Kürzlich fand in Polen ein staatlich organisiertes Konzert zur Unterstützung der Truppen, die “die Grenzen schützen”, statt. Würden Sie sagen, dass Europa versucht, ein neues Bild der europäischen Identität zu schaffen und zu definieren, was es bedeutet, Europa zu “verteidigen”? Gleichzeitig schrieb der griechische Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarachis, am Tag des Papstbesuches auf Lesbos auf Twitter, dass “Griechenland unsere christlichen Werte verteidigt”. Wie hängen diese Ereignisse mit dem ganzen System der Repression zusammen, welches wir jetzt beobachten?

LK: Die Ereignisse sind sicherlich miteinander verbunden, aber ich würde nicht behaupten, dass dies eine neue Dynamik ist. Das Narrativ des “christlichen Europas” oder des Schutzes Europas vor äußeren Feinden, seien es andere Länder oder Fliehende, hat es schon immer gegeben. Es war zwar weniger stark ausgeprägt als heute, aber schon zu der Zeit, als Europa als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts” konstituiert wurde, bezeichnete sie Menschen auf der Flucht als Bedrohung und Feinde Europas. Ich will nicht so weit gehen zu sagen, dass Europa eine vollständig abgeschottete Gemeinschaft oder eine “Festung Europa” ist, denn wir wissen, dass Grenzen bestimmte Menschen hereinlassen. Außerdem gab es schon immer Menschen, die fliehen. Es ist unmöglich, eine völlig abgeschottete Gemeinschaft zu haben. Menschen werden immer Grenzen überschreiten und sie werden Wege finden, dies zu tun. Im Moment ist es vielleicht gefährlicher und es gibt mehr Menschen, die der Gewalt zum Opfer fallen, aber es wird immer wieder passieren. Dieses ideologische Konstrukt der Bedrohung Europas von außen, insbesondere das Narrativ der “hybriden Kriege” und “hybriden Bedrohungen”, ist eine Neuauflage bestehender Narrative. Diese Art von Sprache gab es schon früher, auch wenn sie nicht so populär war wie heute. Das von Ihnen erwähnte Konzert hat etwas sehr Interessantes an sich, wenn man sich die Uniformen, die Auswahl der Künstler:innen und der Lieder ansieht. Es erinnert sehr an den Zweiten Weltkrieg, als Künstler:innen zu den Truppen gingen und sangen. Es scheint derselbe Mechanismus zu sein: Wir haben Künstler:innen, die auf das Schlachtfeld gehen, um die Moral der Armee zu stärken. Dies ist nur eine weitere Art, um zu zeigen, dass sich Europa jetzt in einem Krieg gegen Migrant:innen befindet.

Mare Liberum i. A.

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