Veränderung der Routen

Aus den Orten, an denen die türkische Küstenwache Menschen aufliest, können wir Rückschlüsse auf die Routen ziehen, die von Flüchtenden in der Ägäis genutzt werden. Dabei ist es jedoch häufig schwer zuzuordnen, welche ägäische Insel das ursprüngliche Ziel war, da die griechische Küstenwache die Menschen oft an Stellen auf dem Meer aussetzt, die kilometerweit entfernt von dem Ort sind, an dem das Boot gestoppt wurde. Grundsätzlich stellen wir aber fest, dass die Überfahrten sich im letzten Jahr relativ gleichmäßig über die ganze Ägäis strecken. Während 2020 und auch zu Anfang dieses Jahres vor allem die Gegend um Lesbos für viele Pushbacks bekannt war, sind über die letzten Monate sehr viele Menschen vor Samos, Chios, Kos und auch vor Rhodos zurückgedrängt worden.

Eine wichtige Entwicklung des letzten Jahres ist die verstärkte Nutzung der Route von der Türkei nach Italien. Diese sogenannte Calabria Route umgeht griechisches Festland, führt jedoch in der Regel durch griechische Territorialgewässer. Dass die Route genutzt wird, ist seit Jahren bekannt. Flüchtende sind dabei tagelang auf dem Wasser und dem offenen Mittelmeer ausgesetzt. Sie setzen meist in überfüllten Fracht- oder Segelschiffen über. Die Menschen befinden sich dabei häufig unter Deck, bei Schiffbruch eine “Todesfalle”. Die großen Schiffe sind im Vergleich zu Schlauchbooten auch schwieriger zu steuern. Die systematische Kriminalisierung der Personen, die die Boote der Flüchtenden steuern in Griechenland1 und Italien2 führt vermutlich dazu, dass es Personen sind, die unter Druck die Aufgabe das Schiff zu steuern übernehmen und nicht unbedingt die nötige Expertise haben. Auch dieser Faktor macht die lange Überfahrt von der Türkei nach Italien um einiges gefährlicher und tödlicher (siehe Kapitel “Ertrunkene und Vermisste”).

Die Route nach Calabria ist dabei nicht nur um einiges gefährlicher, sondern auch sehr viel teurer als die Überfahrt in der Ägäis. Dass sie über das letzte Jahr so verstärkt genutzt wird, ist mit Sicherheit auch durch die systematischen und brutalen Pushbacks der griechischen Küstenwache zu erklären. Während 2020 2.507 Menschen aus der Türkei über das Mittelmeer direkt nach Italien geflohen sind, waren es zwischen Januar und November 2021 bereits 11.616 Personen.3

Auch auf der Calabria Route finden Pushbacks statt. Es gibt mehrere Berichte über Schiffe mit Flüchtenden, die auf dem Weg nach Italien in Seenot gerieten oder von der griechischen Küstenwache abgefangen wurden, woraufhin sich ihre Spur verlor. Es ist davon auszugehen, dass diese Menschen in türkischen Gewässern ausgesetzt wurden. Wie bereits erwähnt wissen wir nicht immer, wo die Menschen, die die türkische Küstenwache findet, vorher waren. Es gibt viele Fälle in denen Gruppen mit 70 bis 120 Personen in Rettungsinseln gefunden werden. Die meisten Menschen, die in Booten über die Ägäis fliehen, tun dies in Schlauchbooten mit ca. 20 bis 30 Personen an Bord. Wenn also große Gruppen zurückgedrängt werden, ist es möglich, dass es sich entweder um Sammel-Pushbacks handelt, also mehrere Gruppen auf dem Meer oder den Inseln aufgelesen und gemeinsam wieder ausgesetzt werden. Oder aber es sind Gruppen, die von einem der größeren Schiffe auf dem Weg nach Italien gestoppt und zurück in die Ägäis gebracht wurden. Dass die griechische Küstenwache bereit ist, diese langen und aufwendigen Pushbacks durchzuführen, zeigt sich unter anderem an einem gescheiterten Pushback Ende Oktober 2021. Fast 400 Menschen gerieten mit einem Frachtschiff in der Nähe der Insel Chrysi in Seenot. Zunächst schien es, als wollte die griechische Küstenwache sie illegal in die Türkei zurückbringen, entschied sich dann aber, vermutlich aufgrund von öffentlichem Druck, dagegen. Trotzdem wurde das Schiff tagelang von der griechischen Küstenwache von Insel zu Insel gezogen, bevor die Menschen an Bord letztendlich nach Kos gebracht wurden.4 In einem anderen Fall wurden 82 Menschen, die auf dem Weg nach Italien einen Motorschaden an ihrem Schiff hatten und deshalb auf Kastellorizo anlegen mussten in vier Rettungsinseln auf dem Meer zwischen Samos und Kuşadası ausgesetzt.5

Die vermehrte Nutzung der Calabria Route zeigt, dass die Abschottungspolitik Griechenlands und der EU nicht nur menschenfeindlich ist, sondern zudem zu nichts führt. Es ist nicht möglich, Europa abzuschotten und Fluchtrouten zu schließen. Die genutzten Routen verschieben sich, werden immer gefährlicher und fordern immer mehr Opfer. Sichere Fluchtwege sind die einzige Möglichkeit die Gewalt und das Sterben im Mittelmeer und an allen anderen EU-Außengrenzen zu verhindern.

Mare Liberum i. A.

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