Ertrunkene und Vermisste

Obwohl die Ägäis im Vergleich zu anderen Fluchtrouten über das Mittelmeer auf Grund der kurzen Distanzen zwischen dem türkischen Festland und den griechischen Inseln als verhältnismäßig sicher gilt, ist es nach wie vor eine Route, die viele Menschenleben fordert.

Laut der International Organization for Migration (IOM) sind seit 2014 1.865 Menschen in der Ägäis ertrunken.1 Laut dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) sind es im gleichen Zeitraum 2.104 Menschen.2 Für das Jahr 2021 führen beide Organisationen ebenfalls sehr unterschiedliche Zahlen an. Laut IOM gab es 111 Tote und Vermisste und laut UNHCR 53. Die signifikante Diskrepanz in den Statistiken von IOM und UNHCR über Tote und Vermisste im östlichen Mittelmeer, lässt vermuten wie hoch die Dunkelziffer ist. Fälle werden nur in die Statistik aufgenommen, wenn es dafür offizielle Quellen oder publizierte Artikel gibt.

Viele der Ertrunkenen werden jedoch nie gefunden und ihre Namen bleiben unbekannt. Das macht es vor allem für ihre Familien und Freund:innen nahezu unmöglich, etwas über den Verbleib ihrer Angehörigen zu erfahren. Sie sind gezwungen, mit der unerträglichen Ungewissheit zu leben. Oft hoffen und suchen Menschen jahrelang. Eine Frau im ehemaligen Camp Moria auf Lesbos erzählte uns von einer Mutter in Afghanistan, die sich weigerte, ihr Dorf zu verlassen, obwohl die Taliban auf dem Vormarsch waren. Sie sagte, sie könne nicht weggehen, weil ihr Sohn, der auf seiner Reise nach Europa verschollen war, sie sonst nicht finden könnte, wenn er zurückkäme.

Die Ägäis bleibt eine gefährliche und viel zu oft tödliche Route. Als der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am 30. September 2021 in einem Interview mit dem New York Times-Journalisten Steven Erlanger sagte: “In diesem Jahr ist niemand in der Ägäis ertrunken”3 war dies nicht nur eine Lüge, sondern auch eine absolute Respektlosigkeit gegenüber denjenigen, die ihr Leben verloren haben, sowie deren Familienangehörigen.

Laut IOM 111 Menschen sind 2021 in der Ägäis und anderen Gewässern zwischen der Türkei und Griechenland ertrunken, als sie versuchten, Europa zu erreichen:4

Todesopfer in der Ägäis

  • 19. Januar 2021: Ein Mann ertrinkt in der Nähe von Lesbos
  • 24. Januar 2021: Eine Person wird tot in türkischen Gewässern gefunden
  • 9. März 2021: Vier Menschen ertrinken, die von der griechischen Küstenwache im Rahmen eines brutalen Pushbacks ins Wasser geworfen wurden; Herkunft: vermutlich Sierra Leone
  • 22. Juli 2021: Acht Menschen werden nach einem Schiffsunglück südöstlich von Kreta vermisst; Herkunft: Syrien und Irak
  • 30. Juli 2021: Zwei Frauen und ein Kind werden nach einem Schiffsunglück in der Nähe von Lesbos vermisst; Herkunft: Syrien und Irak, Demokratische Republik Kongo
  • 14. September 2021: Mindestens zwei Vermisste nach einem Pushback von Samos
  • 20. September 2021: zwei Leichen werden in türkischen Gewässern gefunden
  • 26. Oktober 2021: Vier Tote und mindestens eine vermisste Person nach Schiffbruch in der Nähe von Chios; Herkunft: Somalia

  • 5. November 2021: zwei Tote und mindestens eine Vermisste bei Schiffsunglück in der Nähe von Bodrum
  • 11. November 2021: eine Person ertrinkt in der Nähe von Didim; Herkunft: Irak
  • 19. November 2021: eine Person stirbt im Krankenhaus in Antalya nach einem Schiffsunglück auf dem Weg nach Zypern
  • 21. November 2021: eine Person stirbt nach einem Schiffsunglück bei Kreta
  • 3. Dezember 2021: zwei Menschen ertrinken nordöstlich von Kos
  • 21. Dezember 2021: vier Leichen werden nach einem Schiffbruch bei Folegandros gefunden, 33 weitere Personen werden vermisst und sind vermutlich ertrunken
  • 24. Dezember 2021: elf Menschen sterben nach einem Schiffbruch bei Anthikytera
  • 25. Dezember 2021: 22 Menschen sterben bei einem Schiffbruch bei Paros, drei Menschen werden vermisst
  • 28. Dezember 2021: zwei Frauen sterben bei einem Schiffbruch bei İzmir; 
Herkunft: Somalia

In dem Fall vom 30. Juli 2021, kenterte am Lamna-Riff nördlich von Lesvos ein Boot auf dem Weg von der Türkei nach Lesbos. Die griechische Küstenwache initiierte die Suche nach Überlebenden und forderte Unterstützung von Schiffen in der Umgebung an. Als die Nomad, ein voll ausgestattetes ziviles Rettungsboot kurze Zeit später eintraf, wurde sie von den zuständigen Behörden beordert, in den Hafen zurückzukehren. Der Kapitän, ein ortsansässiger Fischer, wurde daraufhin aufgefordert, sich stattdessen mit seinem hölzernen Fischerboot an der Suche zu beteiligen. Eine in Anbetracht der Situation völlig unverständliche Anordnung. Es scheint, dass der Widerwille der Behörden, mit den NGOs zusammenzuarbeiten, größer war als die Notwendigkeit, Überlebende zu finden. Zwei, bei dem Unglück vermisste, Frauen und ein Kind wurden nie gefunden. Die Nomad wurde weder davor noch danach jemals wieder von der Küstenwache für eine Suchaktion anfordert – ohne welche sie nicht operieren darf.5

Die Militarisierung der Ägäis und die systematische Durchführung illegaler Pushbacks haben die Überquerung der kürzesten Strecken zwischen türkischen Festland und den griechischen Inseln fast unmöglich gemacht. Im Zuge dessen nutzen Flüchtende immer gefährlichere Routen, um nach Europa zu gelangen. So ist 2021 ein Großteil der Flüchtenden auf den Calabria Route von der Türkei nach Italien ums Leben gekommen (siehe Kapitel ‘Veränderung der Fluchtrouten’).

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