Pushback von 14 Personen dokumentiert, die bereits die Küste von Chios erreicht hatten
In den letzten Wochen gab es nur sehr wenige Anlandungen auf den griechischen Inseln, und immer mehr Berichte über Pushbacks kommen ans Licht. Während es trotz der Präsenz der EU-Grenzagentur Frontex von Zeit zu Zeit zu Pushbacks kam, gibt es nun drei Berichte über Pushbacks von Menschen, die bereits gelandet waren (Simi 23. März, Samos 28. April). Inzwischen gibt es auch Berichte über Pushbacks auf dem Festland, die zeigen, dass Menschen illegal aus Lagern im Landesinneren zurück in die Türkei abgeschoben wurden (Report hier). Alles zusammengenommen markiert dies eine neue Qualität von Pushbacks in Griechenland.
In einem der Fälle sammelten wir Beweise und Zeug*innenaussagen über die Umstände des Vorfalls:
Am Morgen des 30. April 2020 kam ein Boot mit 14 Geflüchteten auf der Insel Chios an. Kurz darauf war die griechische Küstenwache mit mindestens einem Schiff und Beamtinnen, die mit dem Auto ankamen, vor Ort. Einige der Migrantinnen versuchten, sich vom Strand zu entfernen, wurden jedoch von den Beamtinnen der Küstenwache aufgegriffen und in ein im Bau befindliches Gebäude gebracht. Einheimische, die den Tatort beobachteten, wurden weggeschickt. Etwas später näherte sich das Schiff der Küstenwache wieder der Küste und fuhr dann in Richtung offenes Meer, also in Richtung Türkei, ab, während es mindestens ein Schlauchboot hinter sich her zog. Die Augenzeuginnen sahen nicht, wie die Migrant*innen an Bord des Schiffes gelangten, aber unter allen Umständen erscheint dies sehr wahrscheinlich.
In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages wurden 14 Migrant*innen von der türkischen Küstenwache von einer kleinen Insel, eher einem Felsen, vor der Insel Chios gerettet. Die Geflüchteten wurden zum Hafen von Çeşme gebracht.
Sowohl die Berichte von Augenzeug*innen als auch die von der türkischen Küstenwache freigegebenen Videos legen nahe, dass die griechische Küstenwache die Geflüchtete in einem verlassenen Gebäude versammelte, bevor sie sie auf ihr Schiff zwang, um sie auf die kleine Insel Bogaz zu bringen.
Dies ist ein klarer Pushback, der gegen die Non-Refoulement-Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonvention verstößt, welche von Griechenland unterzeichnet wurde!
Nach Angaben der Lokalzeitung Astraparis gaben die Hafenbehörde von Chios, die griechische Küstenwache und die Polizei in Chios bekannt, dass am 30. April 2020 keine Migrantinnen angekommen seien. Es gibt keine Informationen von Seiten von Frontex. Die Hafenbehörde von Chios gab an, dass an diesem Tag keine Geflüchteten und Migrantinnen angekommen seien, abgesehen von einem Zwischenfall, bei dem die türkische Küstenwache eingriff. Demnach ließen sie ein Schlauchboot in den offenen Gewässern zurück, das dann nach Angaben der Hafenbehörden an die Küste von Chios gespült wurde.
Außerdem gab es nach Angaben der offiziellen Verwaltung des Hotspots Vial keine Neuankömmlinge. Weiterhin zählen die Polizei und die Küstenwachen keine Neuregistrierungen. Das UNCHR gibt an, dass es nach den Informationen, die sie von den Hafenbehörden in Chios erhalten hat, in diesem Zeitraum keine Neuankünfte gegeben hat.
Geflüchtete haben das Recht auf Asyl! Wir fordern den griechischen Staat auf, diesen Vorfall zu untersuchen!
Wir planen diesen Vorfall weiter zu untersuchen. Wenn ihr Informationen habt, die uns helfen könnten, schreibt uns an info@mare-liberum.org
Zeitleiste der Ereignisse:
Die folgende Zeitleiste basiert auf Informationen von Augenzeug*innen, Medienberichten und unserer Feldforschung.
30. April 2020:
Zwischen 08:00 Uhr und 09:00 Uhr
Ein Boot mit 14 Migrant*innen, sechs Männern, fünf Frauen und drei Kindern, kommt auf der Insel Chios zwischen Agia Fotia und Agios Aimilianos an. Zehn der Migrant*innen sind Somalier und vier aus Syrien. Genauer gesagt kommt das Boot irgendwo zwischen St. Emilian und St. John, in der Nähe der Stadt Kallimasia, an. Das Gebiet, in dem das Boot landet, wird Monolias genannt.

09:30 Uhr
Einige der Geflüchteten versuchen anscheinend, eine Siedlung zu erreichen, gehen aber laut Augenzeug*innenberichten eine kleine Landstraße entlang, die von der Küste heraufführt.
Ein Rettungsschiff der griechischen Küstenwache, CG 518, trifft vor Ort ein, kurz vor dem kleinen Hafen von Saint John. Außerdem kommt ein Auto mit zwei Offizieren der Küstenwache an, und sie beginnen, die Geflüchteten zusammen zu sammeln.
Eine augenbezeugende Person berichtet, wie ein Besatzungsmitglied des Schiffes CG 518 mit seinem Hilfs-RHIB an Land geht, um das Schlauchboot zu holen, das die Migrant*innen benutzt hatten. Demzufolge schleppt er das Beiboot an das Schiff und bindet es an der Rückseite des Schiffes fest. Auf diese Weise wird es mitgenommen, wenn das Schiff wieder ausläuft.
11:30 Uhr
Die griechische Küstenwache bringt die 14 Personen, die mit dem Boot kamen, in ein verlassenes Gebäude, das sich im Bau befindet. Ein Offizier erzählt einer vorbeilaufenden augenbezeugenden Person, dass sie die Migrant*innen hineingebracht haben, um sie vor den kalten Winden zu schützen.
Die griechische Küstenwache teilt einem ermittelnden lokalen Journalisten mit, dass an diesem Tag keine Migrant*innen auf Chios eingetroffen seien: “Es sind keine Flüchtlinge eingetroffen. Die türkische Küstenwache wurde in den frühen Morgenstunden gerufen, um einige Flüchtlinge zu bergen, die versuchten, in griechische Gewässer einzudringen. Die türkische Küstenwache lies das Boot der Migrantinnen zurück, was dazu führte, dass es am Strand zwischen Agia Fotia und Agios Aimilianos an Land gespült wurde.”
12:00 Uhr
Das Schiff CG 518 der griechischen Küstenwache nähert sich wieder der Küste. Eine augenbezeugende Person wird aufgefordert, das Gebiet zu verlassen und nach Hause zurückzukehren, da die Küstenwache “in einer wichtigen Mission” sei. Von den Offizieren eingeschüchtert, verlässt die augenbezeugende Person den Schauplatz.
Zwischen 12:50 Uhr und 13:30 Uhr
Von einer versteckten Position aus sieht die augenbezeugende Person, wie das Schiff CG 518 die Küste wieder in Richtung offenes Meer, also in Richtung türkische Gewässer verlässt. Sie schleppen ein oder zwei Beiboote, die etwa so groß sind wie das Boot, mit dem die Migrant*innen angekommen waren. Es ist nicht klar, ob dies dasselbe Beiboot ist, mit dem die Migrant*innen angekommen waren, oder ein anderes. Außerdem sprechen Augenzeug*innen von einem oder zwei Booten.
Dennoch konnte dieses besagte Beiboot in den Tagen nach dem Vorfall auf Chios nicht gefunden werden, obwohl es sorgfältig gesucht wurde. Normalerweise werden Flüchtlingsboote vorübergehend im Bereich der Küstenwache im Hafen von Chios bewacht, bevor sie in ein Lagerhaus gebracht werden.
1. Mai 2020:
Gegen 07:00 Uhr
Die türkische Küstenwache entsendet drei SAR-Schiffe und eine Taucheinheit zur Evakuierung von 14 Migrant*innen, die auf der Insel Bogaz gestrandet waren.

Die Geflüchteten werden mit dem Schiff der Küstenwache evakuiert und in den Hafen von Çeşme gebracht, wo sie einer Gesundheitskontrolle unterzogen werden.
Andere Berichte:
- https://astraparis.gr/poy-vriskontai-oi-prosfyges-poy-vgikan-stin-monolia-kallimasias-tin-pempti/
- https://www.efsyn.gr/ellada/koinonia/241802_hios-mystirio-me-tin-tyhi-prosfygon-poy-eftasan-stin-paralia-tis-monolias
- https://www.sozcu.com.tr/2020/gundem/adada-olume-terk-edilen-gocmenleri-sahil-guvenlik-kurtardi-5789442/?fbclid=IwAR2FjOiLyTxaSMsYrBjpBcJdP93HIvc6vopWb_U3OjrphhmpQP8xG05fA3l
- https://www.sg.gov.tr/izmir-aciklarinda-14-duzensiz-gocmen-kurtarilmistir