Geflüchtete zurückdrängen, Zeugenschaft verhindern

Die griechische Küstenwache führt systematisch täglich brutale Pushbacks in die Türkei durch. Die europäischen Staaten haben es bisher versäumt, diese illegalen Praktiken zu verurteilen. Es ist offensichtlich, dass Mare Liberum oder andere zivile Akteure, die über Verbrechen gegen Menschen auf der Flucht berichten, vor Ort unerwünscht und Repression ausgesetzt sind, kritische Stimmen sollen zum Schweigen gebracht werden.

Am 28. September gab die griechische Polizei eine Pressemitteilung heraus, in der bekannt gemacht wurde, dass gegen vier NGOs, 33 mit ihnen verbundene Personen und zwei “Drittstaatsangehörige” “wegen eines organisierten Vorgehens zur Erleichterung der illegalen Einreise von Ausländern in griechisches Hoheitsgebiet” strafrechtliche Ermittlungen laufen.

Darüber hinaus umfassen die Anklagepunkte neben Menschenhandel auch die Gründung einer kriminellen Organisation und den Beitritt zu einer solchen, Spionage, Verletzung von Staatsgeheimnissen und Verletzung des Einwanderungsgesetzes.

Weder Mare Liberum noch irgendeine andere NGO oder Einzelperson wurde offiziell genannt, allerdings besteht in den griechischen Medien ein Konsens darüber, dass wir im Zentrum des Strafverfahrens stehen werden.

Auch wenn die möglichen Anschuldigungen mehr als absurd sind, nehmen wir die erheblichen Anstrengungen der griechischen Behörden, uns in diesem rauen politischen Klima mit kriminellen Aktivitäten in Verbindung zu bringen, ernst.

Die Repression der griechischen Behörden gegen jede*n, der/die Flüchtende unterstützt, ist Teil des täglichen Lebens auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln und hat seit einiger Zeit eine toxische Atmosphäre der Angst geschaffen. Unter der neuen rechten Regierung hat das Ausmaß der Kriminalisierung und Schikanierung exponentiell zugenommen, vor allem für Flüchtende, aber auch für NGOs und Solidaritätsstrukturen. Viele NGOs oder aktivistische Netzwerke sehen sich seither gezwungen, ihre Arbeit auf den Inseln einzustellen.

Allein in diesem Jahr hat sich unsere Crew gegen faschistische Angriffe und mehrere Einschüchterungsversuche gewehrt und ist auf einem von der deutschen Regierung blockierten Schiff geblieben.

Weiterhin haben die griechischen Behörden unsere Crew kriminalisiert und schikaniert. Am Morgen des 5. September stürmten etwa 25 Beamt*innen der Polizei, der griechischen Küstenwache und der Spezialeinheiten an Bord der Mare Liberum. Das Schiff wurde zwei Stunden lang durchsucht, und alle Telefone und Computer wurden beschlagnahmt. Während der Razzia wurde die Besatzung weder über die Rechtsgrundlagen der Durchsuchung noch über ihre Rechte informiert. Darüber hinaus wurde eines unserer Crewmitglieder von den griechischen Behörden rassistisch behandelt.

Augenzeugenbericht: “Ich wurde von Spezialkräften aufgeweckt und sofort vom Rest der Besatzung getrennt. Ich war der einzige, der auf dem Vorderdeck niederknien musste und gezwungen war, auf den Boden zu schauen. Die Polizei glaubte nicht, dass ich Deutscher war.”

Nach der Razzia mussten vier Crew Besatzungsmitglieder, von denen einige erst ein paar Tage zuvor nach Lesbos gekommen waren, fast sechs Stunden lang ohne Angabe von Gründen in der Polizeistation bleiben. Es gab weder eine offizielle Festnahme noch ein Verhör. Wir warten immer noch auf eine offizielle Erklärung und auf die Rückgabe aller elektronischen Geräte.

Mare Liberum beobachtet seit 2017 Menschenrechtsverletzungen in der Ägäis und setzt sich für die Rechte von Menschen auf der Flucht ein.

Wir werden nun aufgrund unserer dokumentarischen Arbeit und der Aufdeckung systematischer Menschenrechtsverletzungen, die von der griechischen Küstenwache in Zusammenarbeit mit Frontex und der NATO begangen werden, ins Visier genommen und kriminalisiert. Diese Akteure haben ein engmaschiges militarisiertes Netz geschaffen, um Flüchtende mit allen Mitteln, einschließlich illegaler Methoden, daran zu hindern europäischen Boden zu erreichen.

Flüchtende in der Ägäis sind exzessiver Gewalt ausgesetzt, u.a. dem Gebrauch von Schusswaffen, harten Schlägen und dem Aussetzen auf See in seeuntüchtigen Rettungsbooten. Mare Liberum hat ermittelt, dass seit März 2020 mehr als 7.300 Menschen brutal zurückgedrängt wurden. Es geht um 7.300 Fälle von Menschenrechtsverletzungen und gleichzeitig um 7.300 persönliche Tragödien.

Die Fakten sind da und sie sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Internationale Mainstream-Medien haben über die Pushback-Praktiken in der Ägäis berichtet.

Dennoch haben es alle europäischen Staaten versäumt, diese kriminellen Aktivitäten zu verurteilen, was deutlich macht, dass sie die illegalen und unmenschlichen Methoden billigen.

Bedauerlicherweise können wir im Moment das Risiko einer Kriminalisierung unserer Organisation und der Crew an Bord nicht absehen. Daher wäre es unverantwortlich, erneut Crew an Bord der Mare Liberum in physische Gefahr zu bringen. Wir werden daher unsere Mission an Bord des Schiffes vorübergehend aussetzen. Diese Entscheidung war schwer, aber es ist klar, dass wir nicht grundsätzlich aufgeben werden. Wir werden die Zeit für Reperaturarbeiten nutzen, die Situation regelmäßig evaluieren und unsere Einsätze auf dem Schiff so bald wie möglich wieder aufnehmen.

In der Zwischenzeit werden wir weiterhin die Grausamkeiten aufdecken, die in dieser europäischen Außengrenzregion begangen werden, um gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen und für die Rechte derer einzutreten, die auf der Flucht sind.

Wir fordern die EU-Regierungen auf, Flüchtende vor willkürlicher Gewalt, vor illegalen Pushbacks und vor unmenschlichen Lagern zu schützen. Nun sehen wir uns auch gezwungen, zur Solidarität für uns aufzurufen – dem Schutz unserer Crew vor absurder, aber gefährlicher Kriminalisierung.

Diese Entwicklungen verursachen ungeplante Kosten, welche wir nur mit deiner Unterstützung decken können. Wir benötigen zusätzliche Mittel für die Anwaltskosten, den Ersatz der konfiszierten Geräte und für die Hafengebühr.

Mare Liberum i. A.

Gneisenaustraße 2a
10961 Berlin