Die Insel Chios in der Ägäis ist das unliebsame temporäre „Zuhause“ von rund 2000 Geflüchteten. Die überwiegende Mehrheit von ihnen lebt im Lager Vial, das 6,8 km vom Haupthafen und der Stadt Chios entfernt liegt. Vial ist keine Ausnahme, es ist wie die meisten Flüchtlingslager in Griechenland; die Bedingungen entsprechen nicht im entferntesten humanitären Standards, das Lager ist überfüllt, Toiletten fehlen, das Essen ist entsetzlich, Schlangen und Ratten stören unaufhörlich Bewohnerinnen und Nachbarinnen. Die NGOs auf der Insel stemmen aus eigenen Mitteln und Ressourcen einen Großteil der Dienstleistungen im Lager, einschließlich der medizinischen Versorgung und der Verteilung von Grundnahrungsmitteln. Das Chios Eastern Shore Response Team (CESRT) zum Beispiel sorgt für 90% der Versorgung des Lagers Vial, so die Gründerin Toula Kitromilidi, die eine Einheimische aus Chios ist.
Eine der Hauptschwierigkeiten für Geflüchtete in ihrem Asylverfahren besteht nach Angaben einer lokalen Rechtsorganisation darin, dass die Verfahren sehr unfair sind. Eine Aufklärung über die langwierigen und komplizierten Verfahrensschritte, sowie die eigenen Rechte und Pflichten fehlt gänzlich. Die Interviews im Rahmen der Prüfung des Asylanspruchs werden teilweise erst für 2023 terminiert. Sie können bis zu 9 Stunden dauern, in denen die Menschen ohne psychologische Betreuung ihre Traumata durch sehr schmerzhafte Teile ihrer Vergangenheit erneut durchleben müssen.
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Im Gegensatz zu den Erfahrungen von Geflüchteten auf Chios, ist Chios selbst immer eine wohlhabende Insel gewesen, die selbst die griechische Finanzkrise des letzten Jahrzehnts beinahe unbeschadet überstanden hat. Die Einstellung der Einheimischen in Chios hat sich im Laufe der Jahre in Bezug auf die Geflüchteten gewandelt. Als 2015 die ersten Boote auf der Insel ankamen, zeigte sich eine große Hilfsbereitschaft. Lokale Gruppen kochten im Park für die Ankommenden um die 700 Mahlzeiten pro Tag, und bekundeten so ihre Solidarität mit den Geflüchteten. Zur selben Zeit, in der die Migrantinnen in das heute nicht mehr existierende Lager Souda gebracht wurden, eröffnete Jenny, eine lokale Aktivistin, gemeinsam mit Freundinnen einen Spielplatz. Wie Jenny betont, erfuhr sie zunächst auch Akzeptanz durch sdiejenigen, die den Geflüchteten nicht selbst aktiv halfen, weil da, wie sie sagt, “am Anfang viele Flüchtlinge aus wohlhabenden Familien kamen, in Hotels schliefen, in Restaurants gingen und in einigen Fällen ausgenutzt wurden, wobei die Einheimischen ihnen bis zu 10 Euro für ein Sandwich oder 5 Euro für eine Flasche Wasser verlangten”.
Derzeit hat sich jedoch, abgesehen von Jenny und ihrer Gruppe von Unterstützerinnen und einigen anderen lokalen NGOs wie CESRT und FEOX, die öffentliche Wahrnehmung von Geflüchteten stark verändert. Desinformation und Fehlinformation nähren fremdenfeindliche Einstellungen. Die aktuellen Haltungen der Menschen reichen von der Befürchtung einer Überführung von Gesellschaft und Religion in den Islam bis hin zu der Verbreitung der Prämisse, man solle den Migrantinnen nicht zu nahe kommen, da sie ansteckende Krankheiten hätten.
Hinzu kommt, dass die neonazistische, faschistische politische Partei „Goldene Morgenröte“ und andere gleichgesinnte informelle Gruppen wie das nicht mehr aktive Committee Against Refugees (Παγχιακή Επιτροπή Αγώνα) auf Chios präsent sind. In den letzten Jahren waren sie sehr aktiv und haben bei zahlreichen Gelegenheiten gewalttätige Angriffe auf Geflüchtete durchgeführt. 2015 ereigneten sich zwei Pogrome: Protestierende Geflüchtete, die das Rathaus besetzten, und Menschen, die in Solidarität mit ihnen standen, wurden von lokalen Mobs auf dem Hauptplatz angegriffen; ein anderes Mal wurden von den Burgmauern über dem Lager Souda aus Steine und Molotow-Cocktails auf Geflüchtete geworfen. Beide Angriffe waren im Vorfeld organisiert und geplant worden, und viele Faschistinnen reisten in den Tagen zuvor aus Athen und anderen Orten an, um sie durchzuführen. Diese größeren Ereignisse sind nur zwei Beispiele für unzählige Einzelangriffe auf Geflüchtete im Laufe der Jahre. Doch nicht nur Geflüchtete werden angegriffen, auch lokale Anwältinnen, die wie Jenny und ihre Freund*innen solidarisch mit ihnen zusammenarbeiten. Jenny und eine Freundin, die es vorzieht, nicht namentlich genannt zu werden, haben beide Morddrohungen erhalten, Einschüchterungen durch Gewalt erlebt und direkte Angriffe erfahren. Der erwünschte und erzielt Effekt heißt Angst und Entmutigung.

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Im Jahr 2019 fand der jüngste Angriff im April statt, bei dem Eier auf Geflüchtete geworfen wurden. Aktuell lassen die gewalttätigen Angriffe der „Goldenen Morgenröte“ und anderer faschistischer Gruppen nach, nachdem einige ihrer Mitglieder zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt wurden, weil sie 2017 den Polizeichef Athanasios Basioukas angegriffen haben, der nicht uniformiert war und für einen Unterstützer der Geflüchteten gehalten wurde. Die Straßen wirken daher sicherer, sowohl für Geflüchtete als auch für lokale Aktivistinnen, doch wer sich auf ihnen bewegt berichtet etwas anderes. Wenn zuvor Faschistinnen sichtbar und bestärkt in ihren Ansichten, offen durch die Straßen liefen, begegnen einem jetzt Menschen mit der gleichen Vorstellungen von gewaltsamer Unterdrückung und Angst vor Vielfalt in Anzügen und Krawatten gekleidet. Und ihre Ansichten spiegeln sich in der von ihnen verabschiedeten Politik wieder. Sie wissen, wie man die öffentliche Meinung beeinflusst, und sie tarnen ihre Motivationen in nationalistischen und populistischen Ansichten.
Am 3. Juni 2019 wurden die letzten Kommunalwahlen in Chios von Ex-Militär Stamatis Karmantzis mit rund 52% der Stimmen gewonnen. Karmantziz wird der neue Bürgermeister von Chios. In der Vergangenheit fiel er als Sprecher des Zitates “Ein guter Türke ist ein toter Türke” auf; er teilt viele Werte des Ausschusses gegen Geflüchtete. Darüber hinaus werden viele Sitze in der Gemeinde von der Partei Χίος Μπροστά (frei übersetzt als Chios in Front) gehalten, die eine neue politische Partei mit Verbindungen zum Ausschuss gegen Geflüchtete ist.
Aufgrund des weiter verfestigten politischen Klimas gegen Geflüchtete befürchten lokale Aktivist*innen, die sich mit ihnen solidarisch zeigen, dass Hassreden stärker legitimiert werden und die rechtsextremen Gefühle der Menschen von den Machthabern unterstützt werden. Diese Wahl ist an sich Teil einer breiteren nationalen griechischen Bewegung in Richtung der extremen Rechten, und in einigen Monaten wird auch erwartet, dass die extremen Rechten die nationalen Wahlen gewinnen werden, was diese Entwicklungen noch beunruhigender macht, da sie sich auf die Erfahrungen und Prozesse von Geflüchteten in ganz Griechenland auswirken werden.
Nach Ansicht der lokalen Aktivist*innen sind einige der zu erwartenden Folgen der Machtergreifung dieser politischen Ideologien folgende:
- Das Lager Vial kann zu einem Gefangenenlager und einem geschlossenen Lager werden, was bedeutet, dass die Menschen nicht frei in die Stadt gehen können, um Besorgungen zu machen oder Gemeinschaftszentren zu besuchen, die von NGOs betrieben werden, wie z.B. Action for Education und andere, die einen sicheren Raum für Geflüchtete bieten, um neue Fähigkeiten zu erlernen, sich zu entspannen und eine Gemeinschaft außerhalb des Lagers zu genießen.
- Ein massiver Anstieg von Abschiebungen ist absehbar, der vielen Menschen nicht bekannt würde. Die öffentliche Information über diese Abschiebungen ist sehr begrenzt.
- Zunahme der unrechtmäßigen Abweisung, Militarisierung der Grenze, verstärkte Pushbacks, einschließlich maskierter Militärs, die Flüchtlingsboote beschädigen.
Diesen Entwicklungen muss widerstanden werden, und dem Beispiel der mutigen Menschen in Solidarität mit den Geflüchteten sollte gefolgt werden: Auf den Straßen gegen diese Ideologien zu kämpfen und öffentlichen Druck auf die Behörden auszuüben, nicht nur, um Geflüchtete mit Würde und Respekt zu behandeln, sondern auch die systemische Gewalt, die derzeit gegen Geflüchtete innerhalb des derzeitigen politischen Rahmens sowohl in Europa als auch in Griechenland ausgeübt wird, zu ändern.
Diese Entwicklungen beschränken sich nicht nur auf Chios oder Griechenland, sondern sind in vielen Ländern und Städten in der gesamten EU immer stärker präsent. Lager wie Vial sorgen nicht nur für schlechte Lebensbedingungen für Geflüchtete, sondern marginalisieren und schließen diese von der Gesellschaft aus. Diese Spaltung schürt Vorurteile und Hass. Die EU muss die Dubliner Verordnung abschaffen und allen Menschen die Möglichkeit bieten, selbstbestimmt nach einem besseren Leben zu suchen.