In einem beispiellosen Schritt haben die griechischen Behörden einen Geflüchteten wegen des Ertrinkens seines 6-jährigen Sohnes bei einem Schiffsunglück angeklagt. Zusammen mit einem Mitfahrer, dem für das Steuern des Boots lebenslange Haft droht, wird er am 18. Mai 2022 in Samos vor Gericht stehen. Mehr als 70 Organisationen aus ganz Europa fordern, dass die Anklage gegen die #Samos2 fallen gelassen wird. Die Vereinigung von Anwält:innen European Democratic Lawyers wird den Prozess beobachten. Twitter: #Samos2.

Samos, 16. Mai 2022 – N., ein 25-jähriger afghanischer Mann, ist der erste Asylsuchende, der in Europa für den Tod seines Kindes angeklagt wird, dabei war alles, was er wollte, sein Kind in Sicherheit zu bringen. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis, weil er “das Leben seines Kindes gefährdet” hat, indem er mit ihm in ein Boot nach Europa stieg.

Dieser Schritt stellt einen beunruhigenden Präzedenzfall in der Kriminalisierung von Migrant:innen dar, weil er für alle Familien gelten könnte, die in Griechenland ankommen“, kommentiert Dimitris Choulis, Anwalt der #Samos2.

N. steht zusammen mit dem 23-jährigen Afghanen Hasan vor Gericht, der zusammen mit ihm am 8. November 2020 verhaftet wurde. Als sie über die Ägäis aus der Türkei flohen, verließ der Schmuggler nach Kurzem  das Boot, woraufhin Hasan das Steuer übernehmen musste. Nun wird er des Schmuggels beschuldigt für den “unerlaubten Transport von 24 Drittstaatenangehörigen in griechisches Hoheitsgebiet” angeklagt, mit den erschwerenden Umständen der “Gefährdung des Lebens von 23” und der “Verursachung des Todes von einem” – N.‘s Sohn. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe für den Tod des Kindes und weitere 10 Jahre Haft für jede transportierte Person, insgesamt also 230 Jahre plus lebenslänglich.

Mehr als 70 Menschenrechtsorganisationen und Netzwerke in ganz Europa haben die Kampagne “Das wahre Verbrechen ist das Grenzregime – Freiheit für die #Samos2” ins Leben gerufen und fordern, dass die Anklagen gegen N. und Hasan fallen gelassen werden. Sie prangern die vielschichtige Kriminalisierung von Migrant:innen an, die mangels legaler Fluchtwege keine andere Wahl haben, als ihr Leben auf immer gefährlicher werdenden  Routen zu riskieren.

Rechtliche Schlupflöcher werden genutzt, um diejenigen zu verfolgen, die sich schwer gegen systematische Diskriminierung wehren können. Gleichzeitig werden die Verbrechen der europäischen Küstenwachen, Frontex und weiteren Grenzmilitärs nicht strafrechtlich belangt. Die systematische Diskriminierung geht bis in die Verfahren hinein. Immer wieder wird Angeklagten ein fairer Prozess verweigert; Zeugenaussagen anderer Migrant:innen ignoriert oder garnicht gehört, wie z.B. bei dem #ElHiblu3 oder dem #Paros3 Prozess“, sagt Jelka Kretzschmar von Mare Liberum, die sich seit Jahren gegen die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht engagiert.

Hasan wurde angeklagt, obwohl andere Mitreisende, darunter auch N., erklärten, Hasan habe das Steuer übernommen, weil es schlichtweg jemand tun musste.

Egal, wie oft sie es wiederholen, es war nicht die Schuld des Fahrers. Er ist nur ein Migrant und seine Familie war auch dabei, er hat nichts falsch gemacht, er ist nicht zu beschuldigen. Ich bitte nur darum, ich wünsche mir, dass diese Person freigelassen wird“, sagt N. 

Sie [die Schmuggler] zwingen die Migrant:innen das Boot selbst zum Zielort zu bringen, egal ob sie wissen, wie man ein Boot steuert oder nicht“, fügt Hasan hinzu.

Ist der Fall von N. zwar der erste seiner Art, stellt die gegen Hasan erhobene Anklage wegen “Schmuggels” keinen Einzelfall dar. Wie von CPT Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe und Deportation Monitoring Aegean dokumentiert, verhaftet die Polizei routinemäßig eine oder zwei Personen pro ankommendem Boot. Offiziellen Zahlen des griechischen Justizministeriums zufolge stellen Asylsuchende, die wegen Menschenschmuggels verurteilt wurden, die zweitgrößte Kategorie von Inhaftierten in Griechenland dar.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft festgenommen, haben die meisten von ihnen keinen Zugang zu angemessenem Rechtsbeistand, geschweige denn zu externer Unterstützung. Da das griechische Recht besonders drakonische Strafen für Menschenschmuggel vorsieht, führt dies dazu, dass Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit nach Europa kommen, härter bestraft werden als Mörder und Jahrzehnte ihres Lebens im Gefängnis verbringen.

Mare Liberum i. A.

Gneisenaustraße 2a
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