In der letzten Woche kam es in der Ägäis wohl zu einem der brutalsten Pushbacks, der je dokumentiert wurde. Nach Angaben der türkischen Küstenwache und dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu, der ein Video zu dem Fall auf Twitter gepostet hat [1], wurden in der Nacht vom 19. März 2021 sieben Menschen von der griechischen Insel Chios zurückgedrängt. Ihre Handys und Habseligkeiten wurden ihnen abgenommen, sie wurden laut den Berichten geschlagen und schließlich mit Kabelbindern gefesselt. Anschließend brachte die Küstenwache sie auf das Meer und warf sie ohne Rettungsboot (einigen Angaben zufolge auch ohne Rettungswesten, dies ist jedoch nicht bestätigt, da beispielsweise die Person im Video eine Weste trägt) ins Wasser. Zwei Personen wurden noch in der Nacht aus dem Wasser gerettet, eine von ihnen verstarb später im Krankenhaus. Zwei weitere Personen wurden auf der Insel Boğaz gefunden. Zwei Leichen wurden aus dem Meer geborgen. Eine Person galt als vermisst und wurde am 21. März in der Region Çeşme lebend gefunden [2].
Die Informationen zu diesem Pushback kommen nur von türkischen Behörden und sind schwer zu bestätigen, zumal die türkische Regierung bei dem Thema auch eigene Interessen verfolgt. Der Pushback-Fall war gewalttätig und brutal und reiht sich in die über die letzten Monate und Jahre dokumentierten Pushbacks ein.
Es ist ein Standardverfahren der griechischen Küstenwache, Flüchtenden Telefone und persönlichen Gegenstände abzunehmen und diese in vielen Fällen auch zu zerstören. Es ist zudem traurigerweise auch nicht mehr ungewöhnlich, dass die Behörden Menschen, die bereits auf griechischem Boden oder teilweise sogar in Lagern waren illegalerweise wieder auf dem Meer auszusetzen. 2020 haben wir 26 ähnliche Fälle gezählt [3]. Auch Kabelbinder als Handschellen wurden bereits in früheren Pushbacks von der griechischen Küstenwache genutzt, wie Aegean Boat Report berichtet [4]. Schlussendlich ist es bereits der zweite dokumentierte Fall in diesem Jahr, bei dem Menschen auf der Flucht zurückgedrängt und anschließend ins Meer geworfen wurden. Auch am 27. Januar wurden vier Personen aus Palästina und Somalia von Chios zurückgedrängt, in die Nähe einer kleinen Insel (Fener Adasi, Türkei) gebracht und dort mit Rettungswesten ins Wasser geworfen. Sie erreichten die Insel, die eher ein Felsen im Meer ist und warteten dort drei Tage lang ohne Essen oder Wasser, bis die türkische Küstenwache sie fand [5].
Der Vergleich mit anderen Pushback-Fällen soll auf keinen Fall die menschenverachtende Grausamkeit des Falls vom 19. März relativieren, sondern lediglich zeigen, wie sich der Vorfall trotz der übermäßigen Gewaltanwendung in die Serie systematischer Pushbacks durch die griechische Küstenwache einreiht.
In einem Statement stritt die griechische Küstenwache den Vorfall ab und bezeichnete die Meldung, wie auch schon bei anderen Meldungen über Pushbacks zuvor, als ‚Fake News‘ [6]. Erst letzte Woche sagte jedoch der Bürgermeister von Samos, dass Pushbacks den Bewohner:innen der ägäischen Inseln Sicherheit gäben und der Türkei und den Menschenschmugglerringen eine Waffe für den Kampf gegen Griechenland nähmen [7]. Es war das erste Mal, dass Pushbacks öffentlich von einem griechischen Beamten zugegeben wurden.
Wir trauern um die drei Verstorbenen und sind wütend. Es ist längst kein Geheimnis mehr, was täglich in der Ägäis passiert. Es ist kein Geheimnis, wie Pushbacks durchgeführt werden und wer involviert ist. Die Unwilligkeit von Frontex, die wenigen Fälle, die sie zugeben aufzuklären, zeigt, wie gut Pushbacks an den Außengrenzen in die europäische Migrationspolitik passen. Abschottung führt zu Toten an den Grenzen. In der Ägäis, am Evros, im westlichen Balkan sowie auf dem zentralen Mittelmeer, vor den Kanaren, am Ärmelkanal und überall in Europa sterben Menschen infolge aggressiver Grenz- und Abschottungspolitik.
Wir fordern die Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen und Morde an Geflüchteten, sichere Fluchtrouten und Bewegungsfreiheit für alle!