Während viele Menschen in Europa Solidarität mit ankommenden Geflüchteten zeigten, suchte die EU neue Wege Bewegungsfreiheit einzuschränken. Seit dem EU-Türkei-Abkommens 2016 werden auf den Inseln Ankommende daran gehindert auf das Festland weiter zu reisen. Das Abkommen, dessen Unvereinbarkeit mit den Menschenrechten an anderer Stelle weitgehend diskutiert wurde, bedeutete im Grunde genommen hohe Zahlungen an die Türkei im Gegenzug für die Aufnahme von Geflüchteten. Weiterhin umfasst das Abkommen die Prüfung von Asylanträgen, die sich auf die griechischen Inseln beschränken, sowie die Rückführung in die Türkei von Personen, einschließlich derjenigen, deren Asylanträge in Griechenland abgelehnt wurden und die nun von dort zurück in die Türkei abgeschoben werden konnten.
Die EU zahlte große Summen an die Türkei und übergab mit Unterstützung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehrere High-Tech-Schiffe an die türkische Küstenwache, um die Such- und Rettungsaktionen und die Grenzpatrouillen zu verstärken. Nach offiziellen Statistiken der türkischen Küstenwache wurden mehr als 47.179 Migrant*innen abgefangen und im Jahr 2019 in die Türkei zurückgeführt. Noch im selben Zeitraum überquerten etwa 59,726 Migranten die Ägäis nach Europa. Während die EU das Geschäft als Erfolg verkauf, da sie viele Menschenleben gerettet hat, bleibt die Grenze tödlich. Allein im Jahr 2018 verloren 174 Menschen ihr Leben, 2019 70 Menschen und seit Anfang des Jahres bereits 71 Menschen (Stand: 26.08.2020).
Die Menschenrechte von Geflüchteten werden seit Beginn der Überquerungen auf See verletzt. Push-Backs und Pull-Backs, bei denen Personen in türkische Gewässer zurückgedrängt oder -gezogen werden und ihnen somit das Recht auf Asyl in Griechenland verweigert wird, werden regelmäßig von der griechischen oder türkischen Küstenwache, sowie Frontex vollzogen. Zusätzlich gehören gewalttätige Übergriffe und Abfang-Manöver zur Standardprozedur dieser Akteure.
Seit März 2016 werden alle Asylanträge direkt auf den griechischen Inseln bearbeitet, was diese in Gefängnisse verwandelt hat. Langwierige und fehlerhafte Verfahren sowie viele negative Entscheidungen führen zu Berufungen vor Gericht, die wiederum mit langen Wartezeiten verbunden sind und gleichzeitig das Leben in überfüllten Aufnahmezentren unter unmenschlichen Lebensbedingungen verlängern. Das Legal Center Lesbos oder HarekAct bieten mehr Informationen über die Situation auf den griechischen Inseln, insbesondere auf Lesbos.
Frontex, die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, ist mit diversen Teams und Schiffen aus verschiedenen europäischen Mitgliedstaaten in der Ägäis präsent. Erklärtes Ziel der Agentur und ihrer Missionen ist es, die europäischen Grenzen zu sichern und Migrationsbewegungen nach Europa zu stoppen. Frontex ist aber auch an Rettungseinsätzen beteiligt. Ferner hat die NATO im Februar 2016 eine militärische Mission zur Unterstützung und Zusammenarbeit mit Frontex sowie der griechischen und türkischen Küstenwache begonnen, um “die Wege des Menschenhandels und der illegalen Migration” zu durchbrechen (siehe: NATO).
Trotz dieser militarisierten Situation gibt es weiterhin viele Freiwillige und Aktivist*innen, die Widerstand leisten und solidarisch mit Geflüchteten zusammenarbeiten.
Dieses komplexe Zusammenspiel verschiedener Akteur*innen in einer zunehmend militarisierten Grenzzone zeigt die Notwendigkeit einer zivilen Beobachtungsmission mit Fokus auf Entwicklungen und Veränderungen. Mare Liberum mit seiner Monitoring-Mission in der Ägäis wird genau diesem Zweck dienen – als ziviles Korrektiv zur aktuellen europäischen Grenzpolitik.
Nachdem die Türkei Anfang des Jahres 2020 Migrant*innen dazu instrumentalisiert hat, um politischen Druck auf die EU auszuüben und für kurze Zeit Migrant*innen passieren lies, und auf den ägäischen Inseln rechte und rassistische Positionen stärkeren Zuspruch bekamen, ist die Situation noch angespannter als zuvor.
Griechenland hat neue “Grenzverteidigungstrategien” entwickelt. Kaum noch ein Boot schafft es, das Ägäische Meer zu überqueren. Die griechische Küstenwache und Frontex haben ein dichtes militarisiertes Netz geschaffen, um Geflüchtete daran zu hindern, die griechischen Hoheitsgewässer zu erreichen. Wenn sie es dennoch tun, gibt es viele Berichte über Boote von Migrant*innen, die von der griechischen Küstenwache angegriffen, von maskierten Menschen in Booten geschlagen, beschossen, ihre Motoren lahmgelegt und in türkische Gewässer zurückgeschleppt werden. Push-Backs haben somit nicht nur zahlenmäßig zugenommen, sondern die Methoden sind auch offener und gewalttätiger geworden.
Diese Entwicklung, zusammen mit der Veränderung des Asylrechts hat dazu geführt, dass die Chance auf ein erfolgreiches Asylgesuch in Griechenland gegen null geht – die EU schottet sich ab!
In der EU gibt es das universelle Recht auf Asyl, der Zugang dazu wird aber durch Gesetze, fehlende Visamöglichkeiten und die aggressive Abschottungspolitik der EU verhindert. Wir fordern, dass geltendes Recht eingehalten wird, dass die Menschenrechte respektiert und die Genfer Flüchtlingskonvention im ägäischen Meer angewandt wird. Bewegungsfreiheit für alle Menschen und globale Gerechtigkeit!