Am 29. Juni 2020 barg die türkische Küstenwache ein Schlauchboot in Seenot. Das Boot hatte bereits griechische Gewässer erreicht und wurde dort von der griechischen Küstenwache gestoppt. Anstatt die Menschen aus dem absolut seeuntauglichen Schlauchboot zu retten, wie es ihre Pflicht wäre, hat die Küstenwache den Flüchtenden das Benzin abgenommen und die 40 Menschen in dem Boot zurück in türkische Gewässer gedrängt. Der türkischen Küstenwache gelang es 36 der Menschen zu bergen, vier wurden als vermisst gemeldet. Mittlerweile wurde eine der Leichen gefunden und es ist davon auszugehen, dass auch die anderen drei Vermissten tot sind.1 Pushbacks durch die griechische Küstenwache sind nicht neu und passieren nahezu täglich. Dass es dabei zu Toten kommt ist alarmierend, wenn auch nicht verwunderlich. Die türkische und griechische Küstenwache, sowie FRONTEX und die NATO tragen ihre brutalen Machtspiele auf dem Rücken von Flüchtenden aus, die versuchen, Europas tödliche Außengrenze zu überqueren und machen die Überfahrt somit zu einem Kampf um Leben und Tod. Dabei ist deutlich erkennbar, dass in diesen Dynamiken das (Über)Leben der Geflüchteten zur Nebensache wird. Es gibt viele Berichte über die illegalen und unmenschlichen Methoden der Behörden: Motoren werden entfernt oder zerstört, Schläuche der Schlauchboote werden aufgeschlitzt, die Menschen in den Booten werden misshandelt und müssen zum Teil stundenlang auf dem Meer ausharren, die griechische Küstenwache erzeugt in gefährlichen Manövern Wellen, um die Boote in türkische Gewässer zu drängen oder zieht sie an Seilen direkt dorthin, Geflüchtete werden in sogenannten Rettungsinseln auf dem Meer ausgesetzt und dort sich selbst überlassen – die Liste ist endlos. 

In manchen Fällen haben Flüchtende bereits eine der ägäischen Inseln erreicht bevor sie von der griechischen Küstenwache zurück in türkische Gewässer gebracht werden. Am 22. Mai 2020 kam ein Boot mit 31 Migrant:innen auf Samos an. Die Polizei rückte an und brachte die Menschen in einen Bus. Anstatt sie jedoch zum Camp zu fahren, wurden sie wieder an die Küste gebracht, in ein kleines Dinghy (so wie man es Kindern zum Spielen gibt) gesetzt und von der griechischen Küstenwache in türkische Gewässer gebracht. Einer der Geflüchteten fiel dabei ins Wasser und ertrank. Wir haben mit zwei seiner Freund:innen gesprochen. Der junge Mann hat sich lange nicht getraut die Ägäis zu überqueren. Er hatte Angst vor dem Meer. Als jedoch fast alle seiner Freund:innen auf einer der ägäischen Inseln angekommen waren, auch wenn es keine:r von ihnen beim ersten Versuch schaffte, hat es sich dazu entschieden es dennoch zu versuchen. Vor diesem Hintergrund ist es umso dramatischer, dass er es zwar nach Samos geschafft hat, dann aber bei dem Pushback ertrank. Er wurde in einem Wald in der Türkei begraben und seine Familie im Kongo weiß vermutlich nicht, was ihm passiert ist. Für seinen Tod ist die griechische Küstenwache verantwortlich. Und die schweigt. Am 22. Mai sind keine Ankünfte auf Samos registriert und der Tod eines Menschen wird in keinem Bericht erwähnt. Lediglich die türkische Küstenwache vermerkt dies in der Meldung zur Rettung der Menschen.2 

Dem Missing Migrants Project von IOM zufolge starben seit 2014 über 20.000 Migrant:innen auf dem Mittelmeer und dies ist nur ein Bruchteil der Menschen, die bei dem Versuch, Europa zu erreichen scheitern. Da nicht alle der gesunkenen Boote registriert werden, weiß niemand, wie viele Menschen wirklich auf dem Weg sterben. Das zentrale Mittelmeer in einem Schlauchboot zu überqueren, ist allein aufgrund der Bedingungen auf dem Meer extrem gefährlich, doch auch in der Ägäis ertrinken regelmäßig Migrant:innen. Zwar sind die ägäischen Inseln in Sichtweite der türkischen Küste und die Distanz beträgt an manchen Stellen nur wenige Kilometer, jedoch sind allein im Jahr 2020 mindestens 71 Menschen in der Ägäis gestorben.3 Die felsigen Küsten und die schnell wechselnden Wetterbedingungen können zu einer tödlichen Gefahr werden und Schmuggler:innen schicken Geflüchtete oft in kaputten Booten auf das Meer.

Wir haben mit einer Frau geredet, die am 1. März 2020 versucht hat, mit einem Schlauchboot die Ägäis zu überqueren. Das Boot ist kurz vor der türkischen Küste gesunken und eine kongolesische Frau und ihre zwei Kinder starben. Sie hat uns erzählt, was an diesem Tag passiert ist.

„Es war gegen 7:00 Uhr morgens, 8:00 Uhr morgens, wir stiegen ein, wir haben das Dinghy aufgepumpt, wir haben den Motor angemacht, aber es war kein guter Motor und als wir losfuhren sind wir nicht einmal 20 Minuten gefahren. Wir sind nicht sehr weit gekommen. Das Dinghy hatte ein Loch unter Wasser. Es waren viele Steine vor Çanakkale. Als wir reinfuhren, kam Wasser ins Boot. 

Und da waren Kinder, 2 Kinder, eine Familie. Aber die zwei Kleinen waren neben uns. Wir haben versucht sie aus dem Wasser zu ziehen, aber wir haben es nicht geschafft, weil sie Kleidung und Westen trugen und ich in einer schlechten Position war. Ich hockte dort und konnte nicht einmal sehen was um mich herum passierte. 

Das Wasser stieg, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte nur meine Bibel, man hatte mir gesagt alles zurückzulassen, weil wir so viele waren. Sie hatten Angst, dass wir sinken würden. Als wir aufstanden stieg das Wasser. Das Wasser kam bis zu meinem Hals, wir haben geschrien. Wir haben nach Hilfe gerufen und niemand kam und wir waren dort, wurden ins Wasser gezogen und das Wasser spülte das Dinghy weg. Wir sagten uns, dass wir sterben würden. 

Und dann waren da die weinenden Kinder, die zwei weinenden Mädchen, die Mutter schrie links von ihnen. Auf einmal hörten die Kinder auf zu weinen, da war nichts mehr. Wir warteten auf die Küstenwache. Als sie kamen warfen sie uns ein Seil zu. 

Wir hoben die Kinder auf das Boot, aber sie waren nicht mehr am Leben. Die Mutter war in einem Schockstadium als wir sie hochgehoben haben. Sie trug einen Rucksack und im Wasser wurde der zu schwer. Wir zogen sie mit einem Eisending heraus. Als wir sie zum Boot brachten war sie die Erste, die die zur Notaufnahme gebracht wurde. Als sie dort ankam war es bereits zu spät. Wir hatten ihr schon gesagt, dass ihre Kinder tot waren.“

Europas Grenzen mit allen Mitteln zu verteidigen fordert viele Opfer. Migrant:innen sind gezwungen, ihr Leben bei der Überquerung des Meeres in unsicheren Booten zu riskieren. Zusätzlich verschlimmert das Verhalten der griechischen, türkischen und europäischen Behörden die Situation.

  • Am 2. Januar 2020 starben 14 Menschen vor Fethiye und nur acht Körper konnten geborgen werden. Einer der Toten wurde als Yollande Hamdan aus Syrien identifiziert. Sein Name ist einer der wenigen, die bekannt sind. 
  • Am 5. Januar 2020 starben fünf Menschen aus Afghanistan, weil ihr Boot mit einem Schiff der türkischen Küstenwache kollidierte.
  • Am 11. Januar  2020 ertranken elf Menschen (drei Frauen und acht Kinder) vor Çeşme. 
  • Am 1. März 2020 starben eine kongolesische Frau und ihre zwei Kinder vor der Küste von Çanakkale.
  • Am 2. März 2020 ertrank ein vierjähriges Kind vor der Küste von Lesbos. 
  • Am 22. Mai 2020 starb ein Geflüchteter aus dem Kongo bei einem Pushback.
  • Am 29. Juni 2020 ertrank mindestens eine Person vor der Küste von Ayvalık nach einem Pushback. Drei Menschen werden noch vermisst.

Gestorben sind noch mehr Menschen, aber das ist nahezu alles was wir über die gestorbenen Menschen in der Ägäis in diesem Jahr wissen. In manchen Fällen können die Toten identifiziert werden und ihre Namen werden dokumentiert, aber die Meisten sind Zahlen in einer Datenbank. Da niemand wirklich mitzählt, wie viele Menschen sterben, ist es oft sogar schwer die genauen Zahlen der Verstorbenen zu finden. Wir wissen nicht wirklich, wie viele Menschen versuchen, das Mittelmeer zu überqueren und wie viele von ihnen es nicht schaffen. Die meisten Informationen zu Toten auf dem Meer sind schwer zu belegen, da keine offiziellen Behörden sich die Zeit nehmen, die Vorfälle zu untersuchen. Dieses Desinteresse am Tod von Migrant:innen zeigt, dass für Europa ihre Leben und ihr Überleben keinen Wert haben.

Die Toten, die die europäische Abschottungspolitik fordert, sei es in der Ägäis oder auf dem westlichen und zentralen Mittelmeer, gehen ganz Europa etwas an. Das Verhalten von nationalen Behörden oder FRONTEX, sowie die Kriminalisierung von ziviler Seenotrettung und Beobachtungsmissionen4 tragen zu einem Anstieg der tödlichen Seenotfälle auf dem Mittelmeer bei. Europa ist verantwortlich und muss sich dieser Verantwortung stellen. 

Wären die Ertrunkenen weiß, so würde das Thema vermutlich deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen. Es gäbe Gedenkfeiern, Reden, Kranzniederlegungen und am wichtigsten: politische Veränderungen. Aber da die Toten Schwarz oder PoC sind, werden sie schlicht und einfach vergessen. Aber Black and Migrant Lives matter und das dürfen wir Europa nicht vergessen lassen! 

Wir brauchen sichere Fluchtwege und bis dahin dürfen die zivile Seenotrettung und Beobachtungsmissionen nicht kriminalisiert und blockiert werden. Vor allem aber müssen wir all die Menschen in Erinnerung halten, die es nicht geschafft haben. Diejenigen, die auf dem Weg nach Europa ertrunken sind in der Hoffnung, hier ein Leben in Sicherheit führen zu können. Diejenigen, deren Familien und Freunde oft nicht einmal wissen, was mit ihnen passiert ist. Diejenigen, deren Namen wir nicht wissen. Diejenigen, von denen jede:r einzelne bereits zu viel ist. Für sie und für alle Menschen, die in Zukunft auf dem Meer in Seenot geraten und aufgrund ihrer Herkunft nicht gerettet werden, müssen wir unsere Anstrengungen im Kampf gegen das tödliche Grenzregime Europas und die Politik der Abschottung noch weiter verstärken.

  1. https://en.sg.gov.tr/36-irregular-migrants-were-rescued-off-the-coast-of-ayvalik
  2. https://en.sg.gov.tr/20-irregular-migrants-were-rescued-off-the-coast-of-izmir
  3. https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean?migrant_route%5B%5D=1377
  4. Wie z.B. eine Gesetzesänderung des Verkehrsministeriums, die gerade unsere Mission blockiert: https://mare-liberum.org/de/news/verkehrsministerium-verhindert-einsatz-fuer-gefluechtete/

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