Der Massen-Pushback von mehr als 230 Menschen in der Nacht vom 2. auf den 3. April ist ein Paradebeispiel dafür, wie Pushbacks und das Leben von Geflüchteten im geopolitischen Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland instrumentalisiert werden, um die europäische Politik zu beeinflussen. Und für einen weiteren Versuch Griechenlands, Pushbacks zu legalisieren.
Die griechische Version des 2. April
Am 2. April veröffentlichte Notis Mitarachi, griechischer Migrationsminister und berüchtigt dafür, die Existenz von Pushbacks zu leugnen, ein Video-Statement, in dem er die türkische Küstenwache beschuldigte, „instabile Migrantenboote an die europäische Grenze zu begleiten, um eine Eskalation mit Griechenland zu provozieren.“ [1] Ein beunruhigendes Szenario, das an die Ereignisse im März 2020 an der türkisch-griechischen Landgrenze erinnert, als türkische Kräfte in einem machtpolitischen Schachzug Migrant:innen aktiv an die Grenzübergänge brachten. Dies führte zu chaotischen Szenen und einer Eskalation der Gewalt, bei der viele Flüchtende verwundet wurden und mindestens eine Person, Muhammad Gulzar, durch das Geschoss aus einer griechischen Waffe getötet wurde [2].
Aber dieses Mal, über ein Jahr später, hat Mitarachi keine Beweise für seine Anschuldigungen geliefert, außer zwei Videos, die ein Schiff der türkischen Küstenwache in der Nähe eines der Boote von Flüchtenden zeigen und eines, in dem ein TCG-Schiff gefährlich nahe an einem Schiff der griechischen Küstenwache vorbeifährt [3][4]. Letzteres kann sicherlich als provokatives Manöver gesehen werden, ist aber kein Beweis dafür, dass die Flüchtenden von türkischen Behörden begleitet werden. Griechenland und die Türkei haben eine – gelinde gesagt – konflikt- und spannungsreiche Beziehung, und Beinahe-Zusammenstöße von Schiffen der Küstenwache wie dieser sind schon vorher vorgekommen.
Die türkische Version vom 2. April
Noch am selben Tag reagierte die türkische Küstenwache und veröffentlichte (ungewöhnlich schnell) die Details und Bilder von 7 Zwischenfällen mit Flüchtendenbooten, von denen 5 schließlich zurückgedrängt wurden [5]. Sie veröffentlichte auch ein Video mit Aufnahmen von diesem Tag, einschließlich Aussagen von zwei Überlebenden des Pushbacks [6]. Das Video wurde auch vom türkischen Innenminister Ismail Çataklı geteilt, der die Aussage von Mitarachi als “Lügen” bezeichnete [7].
Der erste Mann in dem Video sagt, dass sie etwa 15 Minuten von Mytilini auf Lesbos entfernt gewesen seien, als die Hellenic Coast Guard kam: „Ein paar von ihnen stiegen auf unser Boot, bauten den Motor unseres Bootes aus und begannen, uns zu schlagen […], eine halbe Stunde lang.“ In der zweiten Zeugenaussage behauptet ein Mann, er sei 20 Minuten von Lesbos entfernt gewesen. „Ein griechisches Boot kam, baute den Motor aus und warf ihn ins Meer. Einige Kinder fielen ins Meer. Und dann fuhr das griechische Boot weg.“ Es ist fraglich, wie verlässlich diese Aussagen sind, da sich die Personen wahrscheinlich in einem türkischen Gefangenenlager befanden und es nicht klar ist, ob die Aussagen freiwillig gemacht wurden. Aber das beschriebene Verhalten der Hellenic Coast Guard ähnelt sehr den hunderten von Zeugenaussagen, die das Border Violence Monitoring Network und seine Partnerinnen gesammelt haben.

Bislang gibt es keine Beweise dafür, dass türkische Behörden Migrant:innenboote in griechische Gewässer begleitet haben. Und Mitarachis Behauptung wirkt wie ein Präventivschlag nach einer Nacht mit mindestens 5 Pushbacks in Anwesenheit der türkischen Küstenwache und Frontex. Und 2 Tage nachdem der Europaabgeordnete Erik Marquardt bekannt gegeben hatte, 166 GB Videomaterial von Pushbacks von türkischen Behörden erhalten zu haben [8]. Die türkische Küstenwache und ihr Überwachungsmaterial als Propaganda zu diskreditieren, läge eindeutig im Interesse der griechischen Regierung.
Die Version der Geflüchteten vom 2. April
Eine palästinensische Familie, die sich in einem der Boote befand, die von der griechischen Küstenwache zurückgedrängt wurden, und die anonym bleiben möchte, sagte, dass sie auf ihrem Weg nach Lesbos von keinem Schiff begleitet wurden. Sie waren etwa 2 km vom Ufer entfernt, als sich ein Schiff „mit griechischer Flagge“ näherte und sie blockierte. Kurz darauf traf ein Schiff der türkischen Küstenwache ein. Was dann folgte, ist unter dem zynischen Begriff „griechisches Wasserpolo“ bekannt geworden. Während das überfüllte Schlauchboot in der Mitte trieb, versuchten die beiden Schiffe der Küstenwache, es auf die gegnerische Seite zu schieben, indem sie mit hoher Geschwindigkeit vorbeifuhren und so Wellen erzeugten. Ein solches Manöver nimmt willentlich die Gefährdung der Leben der Menschen in dem überfüllten Schlauchboot in Kauf und setzt sie Todesängsten aus. Es wurde im vergangenen Jahr mehrfach in der Ägäis dokumentiert. Die Flüchtenden in dem Dhingy wurden später an Bord des Schiffes der türkischen Küstenwache genommen und zurück in die Türkei gebracht und erholen sich derzeit von dieser traumatisierenden Erfahrung.
Dies ist nur das Zeugnis eines der 7 Boote, die in dieser Nacht versuchten, Lesbos zu erreichen. Aber es zeigt, wie Menschen auf der Flucht von zwei Nationen instrumentalisiert werden, die keine Rücksicht auf das Leben der Geflüchteten oder die Wahrheit nehmen. Obwohl mehrere Pushback-Überlebende in ähnlichen Fällen ihre Dankbarkeit gegenüber der türkischen Küstenwache für die Rettung ihres Lebens zum Ausdruck gebracht haben.
Der griechische Versuch, Pushbacks zu legalisieren
Zwei Tage später, am 4. April, als Ursula von der Leyen sich mit dem türkischen Präsidenten Erdogan treffen sollte, um den berüchtigten EU-Türkei-Deal neu zu verhandeln, veröffentlichte Notis Mitarachi einen offenen Brief an Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres. In diesem Brief nimmt er Bezug auf die Ereignisse vom 2. April und wirft der Türkei erneut vor, Flüchtende bei ihrem Versuch, die Ägäis zu überqueren, zu unterstützen [9]. In dem Brief spricht er nicht von der griechischen, sondern von der europäischen Grenze und positioniert damit Griechenland als „Schutzschild Europas“, wie es Ursula von der Leyen einmal lobend nannte, und deutet an, dass es ein gemeinsames Interesse sei, die Türkei unter Druck zu setzen, damit sie die Flüchtenden an der Überfahrt hindert und von der Türkei zu verlangen, die Abschiebung von 1.450 Geflüchteten zu akzeptieren [10].
In dem Brief wirft er auch die Frage auf, ob in dem Fall, dass Flüchtende mit aktiver Unterstützung der Türkei übersetzen, die Genfer Konvention – insbesondere Artikel 31-33 – noch gelten. Diese Artikel beinhalten das Nichtzurückweisungsprinzip, das Pushbacks illegal macht. Was Mitarachi hier versucht, ist, die Menschenrechte in der Ägäis teilweise außer Kraft zu setzen und Pushbacks zu legalisieren. Und dies ist nicht sein erster Versuch:
Im März 2020 kündigte Mitarachi via Twitter an, dass Griechenland das Recht, Asyl zu beantragen, für einen Monat aussetzen werde [11].
Im Juni 2020 schrieb Giorgos Koumoutsakos, der griechische stellvertretende Minister für Migration und Asyl, einen von Bulgarien und Zypern mitunterzeichneten Brief an die EU (u.a. an Ylva Johansson), in dem er die Aufnahme einer Notfallklausel in den Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl forderte [12]. Das Ziel der Klausel war es, den Frontstaaten die Freiheit zu geben, mit einem außergewöhnlichen Migrationsstrom effektiv umzugehen, indem sie Präventiv- und Reaktionstaktiken anwenden können. „Präventiv- und Reaktionstaktik“ ist ein diplomatischer Ausdruck für Pushbacks und andere Maßnahmen, die normalerweise als illegal und/oder als Verletzung der Menschenrechte gelten.
Menschenrechte und die Genfer Konvention dürfen nicht pausiert oder ausgesetzt werden. Sie stehen für die weltweit vereinbarten Mindeststandards zur Wahrung von Menschlichkeit und Würde. Sie gelten nicht nur für Menschen innerhalb der europäischen Grenzen und sie gelten nicht nur in friedlichen Zeiten. Der Status quo in der Ägäis, wo Menschen auf der Flucht entrechtet, misshandelt, gefoltert, entmenschlicht, dem Tod überlassen und getötet werden, ist in keiner Weise akzeptabel. Die Instrumentalisierung von Menschenleben für politische Machtspiele oder zur Abschreckung muss aufhören und die Verantwortlichen für diese Verbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
Bewegungsfreiheit und sichere Fluchtrouten für alle!