Während in der Ägäis seit einigen Wochen pushbacks und gefährliche Standoffs auf See zur gängigen Praxis geworden sind, um Migrant:innen daran zu hindern, Griechenland zu erreichen, erleben wir, dass es gleichzeitig viele Bemühungen gibt, die Insel zu “leeren” und Geflüchtete zum Verlassen der Hotspot-Lager zu drängen. Die Menschen hinter den Ausweispapieren werden durch diese chaotische und unorganisierte Praxis absolut nicht respektiert.

Anfang des Jahres gab es eine Gesetzesänderung, so dass Migrant:innen nun nur noch einen Monat statt sechs Monate Zeit haben, um die staatlichen Wohnungsprogramme, ESTIA, zu verlassen, wenn sie einen positiven Asylbescheid erhalten haben. So werden Flüchtlinge jetzt nur noch einen Monat vor ihrer Räumung und dem Ende ihrer finanziellen Unterstützung verwarnt. Uns sind Fälle bekannt, in denen den Menschen sogar weniger als 30 Tage gegeben wurden. Einer Gruppe von Geflüchteten, die in der Sektion für schutzbedürftige Menschen in Moria untergebracht waren, wurde am 3. Juni mitgeteilt, dass sie das Lager bis zum 10. Juni verlassen mussten. Andere Migrant:innen berichteten uns, dass Mitarbeiter:innen des RIC (Reception and Identification Centres) täglich zu ihrem Zelt kommen, um sie dazu zu drängen, Moria endgültig zu verlassen – oft nur wenige Tage, nachdem sie einen positiven Asylbescheid erhalten hatten und bevor sie den Stempel in ihren Ausweispapieren erhielten, der für das Weiterreisen auf das Festland erforderlich ist. 30 Tage oder oft viel weniger, um die Einrichtung zu verlassen und alles für ein Leben außerhalb des Lagers zu organisieren: sich in Griechenland registrieren lassen und eine Steuernummer (AFM) erhalten, um dann einen Job und eine Wohnung zu finden und so weiter. Oft sind Flüchtende gezwungen, monatelang in den Lagern zu leben, ohne das Recht auf Bewegungsfreiheit zu haben oder wählen zu können, wo sie schlafen, mit wem sie ein Zelt teilen, was und wann sie essen. Nun stellt es in vielen Fällen eine unmögliche Herausforderung dar, innerhalb eines Monats ein neues Leben in Griechenland aufzubauen. Wir befürchten, dass diese neuen politischen Maßnahmen zu erhöhter Obdachlosigkeit führen werden.

Eine Frau sagte aus, dass dieser Druck für sie das Fass zum Überlaufen brachte. Obwohl sie endlich internationalen Schutz erhielt, beschloss sie nach all diesen Monaten des Leidens, der Gewalt und der Angst in Moria, ihr Leben zu beenden. Ihre Freund:innen griffen rechtzeitig ein, und sie verbrachte vier Tage im Krankenhaus. Heute weint sie bei dem Gedanken an ihre Abreise nach Athen: keine Zeit zur Vorbereitung, kein Ort, wo sie in Athen hin kann, der Verlust der wenigen, aber engen Freund:innen und Unterstützungsstrukturen hier auf der Insel, ein weiterer Sprung ins Ungewisse ohne einen soziale Anker.

Wir werden Zeug:innen einer Situation, in der Migrant:innen, die endlich einen positiven Asylbescheid und damit internationalen Schutz erhalten, weniger Zeit haben, sich in ihrem neuen Leben einzurichten. Gleichzeitig nahm das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) nach dem Corona-Lockdown seine Arbeit wieder auf und feierte seine Wiedereröffnung mit Tausenden von Ablehnungen und Ablehnungen in zweiter Instanz. Normalerweise werden Migrant:innen nach einer zweiten Ablehnung abgeschoben, aber jetzt stellt Griechenland Papiere aus, die den Empfängern zehn Tage Zeit geben, Griechenland zu verlassen. Außerdem wissen wir von vielen Menschen, denen Asyl gewährt wurde, noch bevor sie ihr Asyl-Interview hatten. Letzteres begrüßen wir als beschleunigte Verfahren, weil sie bedeuten, dass Flüchtende endlich die Hölle von Moria und die Inseln verlassen können, in denen sie seit Monaten gefangen sind. Es gab keine offiziellen Veränderungen in der Verwaltung aber es sieht so aus, dass es klare Ansagen gegeben haben muss, Papiere auszustellen, die die Menschen dazu bringen, die Inseln zu verlassen.

Auf der anderen Seite werden die Menschen aus ihrer Wohnsituation gedrängt und gezwungen, so schnell wie möglich die Fähren zum Festland zu besteigen, ohne einen Plan zu haben, was danach mit ihnen geschieht. Es gibt keine Arbeit, keine Wohnung, und durch die Dublin-Regulierung können sie Griechenland nicht legal verlassen. In den vergangenen Wochen waren wir Zeug:innen langer Warteschlangen am Fährhafen in Mytilini. People of Color mussten in einer separaten Warteschlange warten, wir sahen Polizeigewalt gegen Flüchtende, die versuchten, einen Platz auf der Fähre zu bekommen. Journalist:innen oder Aktivist:innen wurden davon abgehalten, diese Szenen des Chaos und der Gewalt zu dokumentieren.

Endlich wird den Flüchtlingen, die seit Monaten in Moria oder anderen Hotspots warten, internationaler Schutz gewährt – doch offenbar besteht dieser Schutz nur auf dem Papier. Dieses Papier öffnet keine Tür zur Sicherheit, sondern öffnet die Tür nur so weit, dass die Menschen gerade eben durch passen. Für viele der Flüchtenden, die nun gezwungen sind, nach Athen auszureisen, wäre es eine bessere Lösung, eine Unterkunft auf Lesbos zu finden. Die Insel ist voll von leerstehenden Häusern und Wohnungen, aber die Besitzer:innen vermieten oftmals nicht an Migrant:innen oder NGOs. Während die Arbeitslosenquote auf Lesbos bei 18% liegt, scheint die Weigerung, an Ausländer:innen zu vermieten, stärker zu sein, als der Bedarf nach Einkommen.

Wir befürchten, dass diese Entwicklung ein Versuch ist, den Dschungel von Moria zu “leeren” und die Menschen in die Hotspot-Einrichtung zu verlegen, um Moria dann in ein geschlossenes Lager verwandeln zu können. Für die, die endlich einen positiven Asylbescheid erhalten, verbessert sich die Situation aber nicht, sondern wird eher noch schwieriger. Im Grunde verlagert sich das Problem nur auf das griechische Festland: Viele Migrant:innen strandeten in der Athener Innenstadt, auf dem Victoria-Platz, und wurden dann erneut in Flüchtlingslager gebracht, da es keine besseren Lösungen für sie gibt. Die griechische Regierung sorgt nicht mehr für die Geflüchteten auf dem Festland und drängt sie so dazu das Land irgendwie zu verlassen. Die Grenzen zu den Balkanländern sind weiterhin abgeriegelt, die Durchreise ist dadurch teuer und gefährlich. Menschen, die es schaffen, werden an den Grenzen zu Kroatien oft gewaltsam zurückgedrängt und stranden dann wieder in den Grenzgebieten.

Griechenland drängt diejenigen, die Sicherheit in Europa suche gewaltsam zurück – sowohl an der Landgrenze, als auch auf See; diejenigen, die bereits im Land sind werden aus dem Land getrieben dadurch dass jetzt in großen Zahlen Ausweise ausgestellt und diejenigen, die zurück bleiben werden wohl in geschlossenen Lagers untergebracht.

Um das Problem zu lösen, sollten es den Menschen erlaubt werden, Griechenland zu verlassen und sich frei an Orte zu bewegen, wo sie bleiben und sich tatsächlich niederlassen wollen und dürfen und nach Monaten und Jahren des Wartens an den Grenzen Europas ein neues Leben beginnen können. Abolish the Dublin-System! Für das Recht auf Bewegungsfreiheit!

Mare Liberum i. A.

Gneisenaustraße 2a
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